Kultur: Der Reaktist
Harald Martenstein und „Der Sog der Masse“
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Reaktanz. Es gibt Wörter, die in kaum einem Aktivwortschatz je auftauchen, deren Relevanz jedoch nicht hoch genug einzuschätzen ist. Denn ohne Reaktanz verwandelten wir uns alle in Gemüse, ist sich Harald Martenstein sicher. Das etwas kantige Wort Reaktanz stammt aus der Psychologie und bedeutet, dass Menschen auf Verbote oder Druck reagieren, indem sie das Gegenteil von dem tun, was man von ihnen erwartet, sich somit auch gegen den Mainstream auflehnen und aus der Meinungsautobahn der Gesellschaft ausscheren. „Die Reaktanz ist ein naher Verwandter des Trotzes. Reaktanz ist gut, weil sie eine Einheitsgesellschaft mit Einheitsmeinungen verhindert“, schlussfolgert Martenstein in seinem im vergangenen Jahr mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichneten Essay „Der Sog der Masse“, den er am Dienstagabend in der erwartungsgemäß mehr als gut besuchten Villa Quandt des Brandenburgischen Literaturbüros vorstellte.
Martenstein zu erleben ist ein Genuss. Er liest seine Texte nicht nur vor, er präsentiert sie, betont jeden einzelnen Satz mühelos so wuchtig, dass sie Funken schlagen und scherzt zwischendrin auch noch mit dem Publikum. Lange schon erfreuen sich seine Kolumnen dank ihres scharfsinnigen und ironiegewürzten Blicks auf den Zeitgeist hoher Popularität. Die Kunst der kritischen und zugleich unterhaltsamen Gesellschaftsanalyse beherrscht der gebürtige Mainzer aber auch in seinen ernsthafteren Texten, so etwa im „Sog der Masse“, den man freilich nicht lesen kann, ohne bisweilen zu schmunzeln und der auch in Martensteins neuem Buch, der Aufsatzsammlung „Romantische Nächte im Zoo“ enthalten ist.
In seiner unverwechselbaren Art setzt er sich in diesem Essay mit dem zweifelhaften Geist der Mehrheit auseinander, singt er ein Loblied auf die Reaktanz und bezeichnet sich selbst als Reaktist. Wie schwierig es jedoch ist, nicht als langweiliger Konformist dazustehen in einer Zeit, in der ohnehin ständig verlangt wird, seine Individualität unter Beweis zu stellen, sich permanent neu zu erfinden und doch authentisch zu sein, zeigen einige wissenschaftliche Experimente, die Martenstein in seinem Text aufführt.
So behaupten beispielsweise einzelne Teilnehmer einer Gruppe immer, vier unterschiedlich lange Linien seien gleich lang, solange der größere, jedoch insgeheim zuvor instruierte Teil dieser Gruppe diese offenkundig unsinnige Meinung vertritt. Von daher erklärt sich Martenstein den Mainstream auch als eine Art „Schwarmintelligenz“. Der Mensch, das Herdentier, folge eben der Meinung der meisten und dabei drei ganz einfachen Regeln: „Bewege dich in Richtung des Mittelpunkts. Bewege dich in dieselbe Richtung wie alle anderen. Vermeide Zusammenstöße.“ (Ein Prinzip, das unweigerlich an die vielen Kurswechsel Angela Merkels erinnert.)
Wie man sich aber dem Konformitätsdruck entziehen kann, weiß auch Martenstein nicht so genau. Vielleicht sei es so ähnlich wie mit dem Phänomen des Vorurteils, meint er. Nur wer sich bewusst mache, dass er Vorurteile habe, könne dieselben reflektieren und daran arbeiten. So aber könne es passieren, dass selbst jene zum Mainstream zählen, die sich grundsätzlich für Querdenker hielten.
Und als Harald Martenstein einem höchst amüsierten Publikum auch von seiner Datsche in der Uckermark erzählt, in der er bei 20 Grad Kälte bibbernd vergeblich auf die angekündigte Klimaerwärmung wartete, wird schließlich klar, was einen echten Reaktisten auszeichnet.
Daniel Flügel
Harald Martensteins Essay „Der Sog der Masse“ ist auch in seinem neuem Buch „Romantische Nächte im Zoo“ enthalten, erschienen im Aufbau Verlag Berlin, 18,99 Euro
Daniel Flügel
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