Kultur: Der Schneesturm als Zeitmaschine
Der russische Autor Vladimir Sorokin stellte in der Villa Quandt seinen neuen Roman vor
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Im Gegensatz zu früher seien die heutigen Schriftsteller in Russland keine Götter mehr, sagt Vladimir Sorokin. Der Mann mit den frischen Gesichtszügen, dem eisgrauen vollen Haar und dem Kinnbart gilt als der bedeutendste Vertreter der russischen Gegenwartsliteratur und zugleich als jemand, der mit seinen oft derbe parodistischen Büchern regelmäßig den Unmut der politischen Eliten Russlands auf sich zieht. Daher überrascht Sorokin mit seinem neuen Roman „Der Schneesturm“ (Verlag Kiepenheuer & Witsch, 17,99 Euro), der die Geschichte einer sonderbaren Schlittenfahrt eines Landarztes und eines Fuhrmanns über eine endlos weite Schneelandschaft in Russland erzählt. Was sich wie ein Wintermärchen liest und auch sehr stark an die russischen Erzähltraditionen von Gogol, Tschechow oder Tolstoi erinnert, vermischt sich zunehmend und wie nebenbei mit Elementen der fantastischen Literatur. Es ist ein ungewöhnliches Lektüreerlebnis, ein wundervoller Roman, den Vladimir Sorokin am Montagabend im Rahmen seiner Lesereise in der Villa Quandt vorstellte.
Wahrlich meisterhaft habe Andreas Tretner dieses Buch ins Deutsche übersetzt, so der Journalist Uli Hufen, der an diesem Abend als Moderator das Gespräch mit dem Autor auf Russisch führt und ins Deutsche übersetzt. Sorokin, der selbst ganz gut Deutsch versteht, aber nicht spricht, liest die Auszüge aus seinem Roman in seiner Muttersprache, mit einer recht tiefen, doch leisen Stimme, in sich gekehrt und durch oft lange Pausen spannungsreich betont, eine Eigenart, die er auch beim Gespräch beibehält.
Der bekannte Schauspieler und Synchronsprecher Klaus-Dieter Klebsch, der Sorokins Passagen auf Deutsch vorträgt, erweist sich mit seiner Verve, seinem stets sicheren Pathos und seiner brillanten Theatralik bei den Dialogpartien an diesem Abend als wahrer Glücksfall. Gebannt lauschen die Gäste, wie der rübennasige Landarzt Platon Garin gegen die Trägheit der Dorfbewohner ankämpfen muss, ehe er endlich an den Brotkutscher Kosma gerät, dessen Gefährt ihn an den Ort Dolgoje bringen soll, wo die pestkranken Bewohner auf seine Hilfe warten. Erst als inmitten Sorokins stilisierter Literatursprache des 19. Jahrhunderts ein Telefon erwähnt wird, stutzt man etwas. Doch sei es gar nicht schwer, sich auch im heutigen ländlichen Russland in den Jahrhunderten zu verirren, so Sorokin. Der Schneesturm, in den seine beiden Hauptfiguren bald geraten werden, könne man deshalb auch als eine Art Zeitmaschine verstehen. Als klassisches Thema in der Literatur sei der Schneesturm ja ohnehin längst eine russische Marke, meint der Autor scherzhaft.
Tatsächlich ist der titelgebende Schneesturm aber auch so etwas wie die dritte Hauptfigur in seinem Roman, die man nicht ignorieren kann, mit der man interagieren muss, um dort zu überleben, wo es noch so aussieht wie im 19. Jahrhundert. So hat Vladimir Sorokin nicht nur ein Buch über die Ferne und die weiten Räume, sondern auch über die Erstarrung Russlands geschrieben, dessen gegenwärtiger Zustand sich am trefflichsten mit einer klassischen Literatursprache beschreiben lässt. Obwohl oder gerade weil es dort mittlerweile von Zwergen, Riesen und anderen seltsamen Wesen wimmelt.
Der Frage, ob er als Autor in seinem Land denn in Ruhe arbeiten könne, weicht Sorokin jedoch aus. In Russland gebe es schon seit Langem keine Zensur mehr, jeder könne dort schreiben und veröffentlichen, was er wolle, meint er. Nur wisse man als Mensch, der dort lebt, dass sich zumindest dieser Zustand jederzeit, von heute auf morgen, ändern kann.
Daniel Flügel
Daniel Flügel
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