Kultur: Dialog über ein verschollenes Thema
Hans Magnus Enzensberger und Jan Philipp Reemtsma bei Ovid Friedrich II. liebte Ovid.
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Hans Magnus Enzensberger und Jan Philipp Reemtsma bei Ovid Friedrich II. liebte Ovid. Ob im Stadtschloss, in Sanssouci oder in den Neuen Kammern, überall findet man Szenen aus dem unverstandenen Werk dieses Magus. Clinton liebte Monica Lewinsky. Als er beim Staatsbesuch mit Helmut Kohl auch nach Potsdam kam, rieten seine Berater davon ab, in der Ovid-Galerie zu speisen, die Anzüglichkeiten gewisser Liebesszenen gingen ihnen aus naheliegenden Gründen einfach zu weit. Friedericus liebte zudem die Aufklärung. Die Sache mit dem Spitzmund Voltaire ist hinlänglich bekannt, weniger vielleicht, dass sein Kollege Diderot Sanssouci ausdrücklich mied und lieber zu Katharina nach Petersburg ging. Aus Liebe zur Wissenschaft und zur Kunst organisierte das Potsdamer Einstein-Forum am Dienstag in eben diesem Prunkraum eine Veranstaltung, welche sich, neben Liebe, Kunst und Wissenschaft auch einem ernsten Thema zuwandte, der Erziehung des Menschengeschlechtes im Zeichen der Aufklärung. Diese suchte ja, bei Fürsten wie bei Untertanen, den „besseren Menschen“, doch woher nehmen? „Die Erziehung ist es! Sie allein bringt die Unterschiede im Menschen hervor!", postulierte der französische Philosoph Helvetius in einem Werk, welches die Pariser Justiz auf den Scheiterhaufen warf. Mitaufklärer Diderot echauffierte sich über diese These, doch weil „De l“homme“ posthum erschien, war eine personengebundene Auseinandersetzung nicht möglich. Zum Glück gibt es den Münchener Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger. Er schrieb die vakante Disputation zwischen zwei aufgeklärten Gelehrten in einem fiktiven Dialog (Stand 1760) nieder, stets zugunsten seines Favoriten Diderot. In der szenischen Lesung bestand der Autor nachdrücklich darauf, dessen Parts zu geben. Sein Gegen-Leser Jan Philipp Reemtsma, ein professoraler Kenner der Neuen Deutschen Literatur, konnte Diderot“s witzelnden Sophistereien „szenisch“ wenig entgegenhalten. Das Gleichgewicht fehlte. Nun kann man in der Ovid-Galerie zwar Staatsempfänge geben, aber für dieses Projekt hätte es andere Voraussetzungen gebraucht. Jeder Schritt der vielen Zuspätkommer störte die Akustik, auch Enzensberger selbst war bestenfalls halb zu verstehen. Unter der merkwürdigen Prämisse, dass Aufklärung gut sei, ging es in dieser „hausgemachten Veranstaltung“ anfangs um die Frage, wo die Erziehung herkommt und hingeht, etwa so, wie es die charmante Moderatorin Lorraine Daston im akademischen Anschluss-Disput formulierte: Ist es besser zu glauben, dass eine Mutter keine Wirkung auf das Schicksal ihrer Tochter habe, oder allein ihre Verantwortung, sie zu erziehen? Dass die beiden Kontrahenten Antworten mitzuteilen hätten, galt zwar als erwünscht, wurde aber mitnichten eingelöst. Man schätzt sich selbst hoch, argumentierte Reemtsma mit Leibniz, denn jener schien allwissend zu sein. Pädagogik sei immer ein „instrumentiertes Verhältnis zweier Seiten“, und also „krank“, so der Hamburger, „wir haben es mit einem großen System zu tun". Klar. Als Frau Daston fragte, welche Gesellschaft eigentlich eine wissenschaftliche Pädagogik brauche, kam Enzensberger ins Stottern. Hatte man wirklich Leute vom Fach vor sich? Besser parlierte es sich über dialogische Strukturen der Wissenschaft, gedankliche Umwege zur Findung der Wahrheit, über die lieben Philosophen, denen Enzensberger nicht zumuten wollte, das zu leben, was sie da lehrten, sie müssten ja „immerzu gut“ sein. Unmöglich! Dann verließ man Ovid, um das längst verschollene Thema beim Wein „informell“ fortzusetzen. Gerold Paul
Gerold Paul
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