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Kultur: Die anale Phase

„Schöne Scheiße“: Claudio Lange im Einsteinforum

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Am Anfang ist es schwer, dem in Berlin lebenden Künstler Claudio Lange auf seinen skatologischen Wegen mit dem nötigen Ernst zu folgen. Skatologie, das ist die Wissenschaft vom Kot. In der Ausstellung im Denkerhaus am Neuen Markt geht es diesmal um das „große Geschäft“, könnte man scherzen und wäre doch nur ein Opfer fragwürdiger Tabus. Ist Lange nur ein anal fixierter Fäkalkünstler? Die Geschäftsführerin des Einstein Forums, Inga Wellmann, bleibt gelassen. „Wir wollen mit der Ausstellung nicht provozieren.“. Im Gegenteil, die Ausstellung passe gut in das Profil des Hauses, denn sie bemühe sich, festgefahrene Sichtweisen aufzubrechen. In der westlichen Welt wären menschliche Ausscheidungen ein komplettes Tabu.

Claudio Lange zeigt Collagen, Texte und Gemälde, die das Ergebnis seiner nun zwei Jahre währende Beschäftigung darstellen. Sein Erkenntnisprozess begann dort, wo selbst ein Kaiser alleine hinzugehen pflegt. Dort blickte er hinter sich. War nicht die simple Aufgabe eines Künstlers, alles zu malen, was er sah? Und meine eigenen Exkremente sehe ich jeden Tag. „Hallo“, sprach Lange zu sich weiter, „mach mal deine Hausaufgaben!“ So begann er, sich der Aufgabe mit „Übungen“ zu nähern. Auch diese Bilder hängen in den Räumen des Einstein Forums. Doch wer das Braun des körperlichen Zersetzungsprozesses als Farbe sucht, wird enttäuscht. Denn schon hier begann Lange seine eigentliche Stärke auszuspielen, die Lust, intellektuelle Verbindungen zu entdecken. Er setzte die vier Elemente „Wasser, Feuer, Luft und Erde“ in Analogie zum Menschlichen. Wasser steht für den flüssigen Blaseninhalt, das Feuer für das Hinterteil, das für Lange so etwas wie der Inbegriff der Erotik darstellt, die Luft steht für die „Winde“, die manchmal entfleuchen und die Erde für, naja, den eigentlichen Ausstellungsgegenstand. Diese Elemente ordnete Langer den vier Grundfarben zu, mit dem Ergebnis, dass hier ein Abfallprodukt, das kurz vor der Verrottung steht, plötzlich in den Farben des Regenbogens erscheint. Da Langer es auch mit der Formensprache der Natur nicht so genau nahm, hängen an den Wänden des großen Vortragsraums muntere Abstraktionen in allen Farben des lustigsten Regenbogens. Fast hat man den Eindruck, der Künstler habe das große Tabu selbst noch nicht richtig verdaut.

Claudio Lange, in Chile 1944 geboren, ist promovierter Religionswissenschaftler, der in Fachkreisen durch seine Vorträge über die Kirchenskulpturen des Mittelalters von sich Reden macht. Er steht vor einer seiner Collagen. Das unaussprechliche Geschehen, das da in Stein gehauen ist, hat er im Germanischen Museum in Nürnberg entdeckt und stammt aus dem 11. Jahrhundert. Die erste Person übergibt sich in den Mund der zweiten, die sich wiederum in den Mund der dritten entleert. Kirchenkunst!

Lange startete eine gewissenhafte Suche in der Kunst- und Literaturgeschichte. Seine Offenbarungen hat er als kolorierte Kopien in die Collagen verarbeitet. Zentral: ein Stich von Rembrandt. „Ein absolutes Geschenk“, kommentiert Lange. Der flämische Meister zeigt unter den hoch gelupften Röcken einer Frau offenkundig den allzu menschlichen Vorgang. Es wäre Goethes Lieblings-Rembrandt gewesen, erzählt er. Auch Picasso zeigt eine verrichtende Frau, die zudem auch noch eine Flüssigkeit trinkt, die dem Gekreuzigten aus einer Wunde tritt. Hieronymus Bosch, Botero, Dali und ganz entschieden der Amerikaner Robert Crumb. Sie alle malten gegen das große, übel beleumundete Tabu.

Lange hat sich die Theorien von Sigmund Freud zu Eigen gemacht, der das Anale als übermächtige, aber unterdrückte sexuelle Triebkraft auffasst. Das Tabu regiert sogar unsere Sprache. Regelrecht erschrocken hat ihn die Einsicht, dass das Wort „Ausdruck“ eigentlich vom Urvorgang der Darmentleerung abgeleitet ist. Das Wort habe, so Lange, jedoch seinen Geruch verloren.

Die Aufgabe der Kunst sei es, diesen ausgegliederten Bereich wieder in die Körper- und Lebensvorstellungen zu integrieren, so Lange. Dazu will die Ausstellung Anregungen geben.

Matthias Hassenpflug

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