Kultur: Die Beständigkeit im System Putin Boris Reitschuster sprach im Truman-Haus
Die Einschätzung fällt ernüchternd, aber nicht überraschend aus. Dimitrij Medwedew, Präsident von Russland, ist nur eine Art Prinzregent.
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Die Einschätzung fällt ernüchternd, aber nicht überraschend aus. Dimitrij Medwedew, Präsident von Russland, ist nur eine Art Prinzregent. Die wahre Macht im russischen Riesenreich liegt noch immer in den Händen von Medwedews Vorgänger, Wladimir Putin, derzeit als Ministerpräsident offiziell der zweite Mann im Staat.
In seinem Buch „Der neue Herr im Kreml? Dimitrij Medwedew“, das Russlandkorrespondent Boris Reitschuster am Mittwoch im Truman-Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung in Babelsberg vorstellte, signalisiert schon das Fragezeichen im Titel, dass auch eine andere Variante möglich wäre. Das Buch erschien kurz nach der Wahl Medwedews am 2. März 2008. Da hielt Reitschuster, der seit 13 Jahren in Russland lebt und seit 1999 das Moskau-Büro des Nachrichtenmagazins Focus leitet, es noch für möglich, dass Medwedew sich vielleicht von Putin emanzipieren könnte.
Nach der Wahl Medwedews besuchte Reitschuster einen hochrangigen Beamten. „Zwei weiße Telefone standen auf seinem Schreibtisch, eines für Medwedew und eines für Putin“, sagte Reitschuster. Der Beamte war verzweifelt, er wusste nicht, wen er in bestimmten Angelegenheiten zuerst anrufen sollte, ohne sich beim anderen unbeliebt zu machen. Diese Unsicherheit sei mittlerweile vorbei, der Beamte habe jetzt nur noch ein weißes Telefon auf seinem Schreibtisch, mit direktem Draht zu Putin. Das System Putin strotzt nur so vor Beständigkeit.
Eine Stunde lang redete Reitschuster im gut besuchten Foyer der Stiftung über die aktuelle politische Lage in Russland. Und wer sich im Publikum bisher in Sachen Informationsbeschaffung über Russland auf Presse und Fernsehen verlassen hat, dem standen wohl bei jedem fünften Satz die Haare zu Berge.
Es ist die Willkür und der Zynismus einer Machtelite, die sich durch Korruption und Kaltschnäuzigkeit Staatsapparat und Wirtschaft zu beliebigen Werkzeugen ihrer Interessen gemacht hat. Wer sich nicht anpasst, wird beseitigt. Gesteuert wird alles aus der Machtzentrale Kreml und nur für das Fernsehen wird der Schein gewahrt, dass alles im Sinne der Verfassung sei. Das dann aber so plump, dass jeder einfache Mensch in Russland wisse, so Reitschuster, dass da nur ein schlechtes Schauspiel geboten wird.
Es war nicht leicht, Reitschusters Ausführungen zu folgen, ohne dass sich eine innere Stimme in einer Art Abwehrmechanismus regelmäßig meldete und forderte: Das kann nicht wahr sein. Doch wie in seinen Büchern nahm Reitschuster auch an diesem Abend kein Blatt vor den Mund und schilderte das Hanebüchene im russischen Politpoker, über das selbst ein abgeklärter Westeuropäer den Kopf schütteln muss. Doch es gibt Hoffnung, so Reitschuster. Man müsse unterscheiden zwischen der Politik und den einfachen Menschen in Russland. Die wollen Veränderungen. Doch wird dieser Prozess der Veränderungen ein sehr langsamer sein.
Beim anschließenden Empfang wollte Boris Reitschuster nicht lange bleiben. In einem Berliner Hotel wartete Dimitrij Muratow, Chefredakteur der kritischen „Nowaja Gaseta“, in ziemlich schlechter Verfassung auf ihn. Am Tag zuvor waren der russische Anwalt Stanislaw Markelow und Muratows Mitarbeiterin Anastasia Baburowa in Moskau auf offener Straße durch Kopfschüsse regelrecht hingerichtet worden. „Bitte haben Sie Verständnis, aber Muratow braucht jetzt meinen Zuspruch“, entschuldigte sich Reitschuster. Die Abgründe des politischen Alltagsgeschäfts in Russland holen ihn selbst in Deutschland ein. Dirk Becker
Boris Reitschuster: Der neue Herr im Kreml? Dimitrij Medwedew, Econ Verlag, Berlin 2008, 256 Seiten, 16,90 Euro.
Dirk Becker
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