Herr Doktor phil. Ian Bostridge ist ein hochgewachsener Endvierziger, asketisch wirkend, vornehm-aristokratisch. Der Engländer betrat am Sonntagabend die Bühne des Nikolaisaals als Sänger, nicht als Historiker und Philosoph. Bis Anfang der Neunzigerjahre war er noch in den geisteswissenschaftlichen Berufen tätig, dann hat das Singen den Sieg davongetragen. Als Konzert-Tenor ist er inzwischen weltbekannt. Hin und wieder unternimmt Bostridge Ausflüge auf Opernbühnen, aber immer wohl dosiert. In den Neunzigerjahren sang der Weltklasse-Tenor bereits in Potsdam, in einer Aufführung von Brittens „War Requiem“ mit der Kantorei der Erlöserkirche unter dem Dirigat von Kirchenmusikdirektor Friedrich Meinel.
Der Sänger scheint seine Bestimmung als idealer Britten-Interpret, als Nachfolger des Tenors Peter Pears gefunden zu haben. Dies wurde im leider mäßig besetzten Nikolaisaal sehr deutlich, denn vor allem die Lieder Benjamin Brittens liegen ihm besonders, dessen eigene Erfindungen sowie Bearbeitungen.
Zum eher anmutigen und offenherzigen Tonfall von Joseph Haydns Canzonetten, die alles andere als gefällige Kleinigkeiten sind, fand Bostridge im Nikolaisaal selten, weil er sie zu introvertiert sang. Bostridges Stärken sind nämlich die elegischen Stücke und Passagen, die Schönheit und Magie des lyrischen Tones gepaart mit Schwermut oder existenzieller Erschütterung. Auch bei den fünf Geistlichen Liedern aus dem Bachschen Schemelli-Gesangbuch, die Britten bearbeitete, war dies zu spüren. Der Begriff Bearbeitung ist in diesem Falle nur insofern richtig, als Bachs Vorgaben die Gesangslinie und den bezifferten Bass betreffen. Die eigentliche Ausgestaltung, die Begleitung, bleibt jedoch dem Interpreten des Continuo überlassen. Das hat Benjamin Britten freilich gereizt und er hat diese Möglichkeiten auch voll ausgeschöpft. Noch stärker war dies bei Henry Purcells „The Queen’s Epicedium“, einem Trauergesang für Königin Mary, die bereits im Alter von 33 Jahren starb, zu hören. Der Sänger überzeugte auch deshalb, weil er den Stimmklang nicht dem oft aufgeblasenen affektierten Ausdruck heutiger Zeit opferte.
Höchst anspruchsvoll sind die Vier Lieder aus dem Zyklus „Who are these children?“, die Britten auf Gedichte des Schotten William Soutar komponierte. Sie umkreisen das Thema Krieg. Ausdrucksstark gestaltete der Sänger gemeinsam mit dem Pianisten Julius Drake die musikalischen Momentaufnahmen, die Gefühlsregungen, immer persönlich, intim, doch verfiel er nie in den Versuch, Effekt und Wahrhaftigkeit zu verwechseln. Die reizvolle, herbe Tonalität und die dramatische und zugleich nach innen gerichtete Kraft der Lieder loteten Bostridge und Drake bestens aus.
Zum Abschluss gestalteten die Künstler „Vier Lieder“ von Kurt Weill nach Gedichten von Walt Whitman, Gesänge, die sich ebenfalls mit dem Krieg auseinandersetzen, mit der Erschütterung und der Trauer, die er auslöst. In dieser Spannung interpretierte Bostridge die Lieder, die beim Zuhörer fast einen körperlichen Schmerz hervorriefen. Auch hierbei bedachte Julius Drake am Klavier mit einem konzentrierten Spiel und ohne überzogene Gesten die jeweiligen Stimmungen intensiv. Es gab langanhaltenden Beifall für Sänger und Pianisten. Klaus Büstrin
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