Kultur: Die Energie des Hip-Hop
Pierre Rigals „Standards“ zum Tanztage-Auftakt
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Blau, weiß und rot – der Boden ist in Farben getaucht. Acht Menschen schreiten über sie hinweg, trampeln herum und ehren sie doch mit ihren Körpern. Mit Kriegsbemalung in den Gesichtern treten sie einen Kampf gegen sie, aber auch für sie an. Es könnte ein Akt größten Patriotismus oder auch das genaue Gegenteil sein. Es ist dieser Widerspruch zwischen dem Individuellen und dem Universellen, den Pierre Rigal aufzeigen will, wenn er heute mit seinen „Standards“ die 23. Potsdamer Tanztage in der „fabrik“ eröffnet.
Das Suchen des Individuellen im Universellen und des Universellen im Individuellen legte Pierre Rigal seiner Performance zugrunde. Schöne Worte, die einen schwer begreifbaren Prozess beschreiben. „In Frankreich herrscht seit Jahren eine schwierige Debatte über die nationale Identität und Individualismus. Ich wollte etwas machen, das dieses Thema aufgreift“, sagt der französische Tänzer und Choreograf über die Idee hinter seiner Performance.
Ausgehend von der französischen Flagge mit ihren Farben Blau, Weiß und Rot hat Rigal ein tänzerisches Konzept entwickelt, sich dieser Debatte zu nähern. „Die Nationalflagge ist das Symbol der nationalen Identität. Ich habe sie wortwörtlich auf den Boden gelegt, auf das Land, das sie am Ende definiert.“ In „Standards“ soll die Bühne zur Basis einer tänzerischen Annäherung an das Land, seiner Identität und der menschlichen Individualität werden. Die wortgeschichtlich enge Verwandtschaft des französischen Begriffs Étendard (Flagge) zu dem englischen Wort standard, das für Normen und Maßstäbe steht, nutzte Rigal als zweiten Ansatzpunkt für seine Performance. „Mit der nationalen Identität eines Landes gehen immer gewisse Normen einher, Standards, die der Mensch erfüllen muss. Mit diesem einen Wort wird eine ganze Gesellschaft definiert.“ Rigal will sich dieser starren Vorstellung entgegenstellen. Die Vielfältigkeit einer Gesellschaft lasse sich schließlich nicht mit einem einzigen Wort beschreiben. „Die Menschen definieren sich nicht nur durch das Land, in dem sie leben, sondern auch durch ihre Religion, ihren Lebensstil oder ihr Aussehen.“ Gerade deswegen spielt die Aufmachung seiner Tänzer eine entscheidende Rolle. Die bunte Kriegsbemalung soll ein Zeichen dafür sein, dass sie in den Kampf ziehen, für ihr Land oder ihre Individualität. Durch die Bemalung gehören alle acht Tänzer zusammen, sie bilden eine starke Gemeinschaft, doch durch die unterschiedlichen Farben verlieren sie dabei auch nicht ihre Eigenheiten. Festgelegte Normen und individuelle Entfaltung – ein Widerspruch, der sich auch im Hip-Hop wiederfindet. Gerade deswegen die optimale Darstellungsform für Rigals Thema. „Hip-Hop wird geprägt von festen Codes, mit denen man aber eine Menge experimentieren kann.“ Die Energie, die dabei von seinen Tänzern ausgeht, ist für Rigal etwas Besonderes. Mit der unbefangenen Art, an die Themen heranzugehen, begeisterte Rigal schon in den vergangenen Jahren bei den Tanztagen. „Standards“ ist die dritte Performance, mit der er zu Gast ist. Der Verantwortung, die jetzt auf seinen Schultern lastet, ist er sich bewusst. „Als Eröffnungsveranstaltung müssen wir etwas zeigen.“ Von besonders großer Aufregung ist jedoch noch nichts zu spüren. Vielleicht ein weiterer dieser unendlich vielen Widersprüche. Chantal Willers
Heute, 20 Uhr, fabrik, Schiffbauergasse
Chantal Willers
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