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Eng beschrieben ist jede Seite in den Tagebüchern von Hildegard Muschan aus Rathenow. Von 1945 bis 54 hat sie alles notiert, was sie für wichtig hielt. Ihr Mann sollte sie bei seiner Rückkehr lesen. Doch er war längst tot.

©  Klaer

Von Dirk Becker: Die ganz persönliche Schrift

Mit dem Projekt „Zeitstimmen“ will Peter Walther eine besondere Geschichte Brandenburgs schreiben

Stand:

„Die Gemeinde ist arm, sie zahlt nur 89 Mk Einkommenssteuer. Mehrmals kam mir der Gedanke: verlasse Krams; und noch heute ist derselbe nicht ganz verbannt. Doch das neue Haus, dessen Einrichtung mich manchen Groschen kostet und das zu erlangen auch mir so viel Mühe gemacht hat, die beiden gutbepflanzten, eigenen Gärten, die friedliebende Gemeinde und besonders das gute Verhältnis mit meinem Herrn Schulinspektor machen es schwer, in dieser Hinsicht einen festen Entschluß zu fassen.“ (Friedrich Malchow, Lehrer in Krams in der Prignitz, 11. Mai 1897)

Noch ist die Anzahl überschaubar. Knapp 30 Tagebücher sind bei Peter Walther im Brandenburgischen Literaturbüro eingegangen. „Ein wenig enttäuscht war ich anfangs schon“, sagt Walther, der mit weit mehr Resonanz auf den Aufruf für das Projekt „Zeitstimmen aus Brandenburg“ gerechnet hatte.

Anfang dieses Jahres ist Walther mit seinem Vorhaben, eines Erlebnisgeschichte für das Land Brandenburg, zusammengesetzt aus zahlreichen Stimmen, an die Öffentlichkeit gegangen. Er hat das Faltblatt „Zeitstimmen aus Brandenburg. Wir suchen Ihre Geschichten!“ unter anderem in Bibliotheken und Seniorenheimen verteilt, hat die knapp 550 Kirchengemeinden in Brandenburg angeschrieben, um so viele Tagebücher, Briefe, Bilder und Postkarten zu bekommen. „Ich musste bald erkennen, dass es vielen nicht leicht fällt, sich von Tagebüchern oder Briefen, selbst geschrieben oder von verstorbenen Verwandten, zu trennen“, sagt Walther. Er hat gemerkt, dass sein Projekt „Zeitstimmen“ auch ein Projekt ist, bei dem er oft erst einmal Vertrauen schaffen muss.

„Schnell mit dem Jungen Latein erledigt, erst wird die Pflicht getan in diesen ernsten Zeiten, und dann auf´s Rad nach Bernau. Es soll ihm für seinen Fleiß eine Belohnung sein, mal alle die deutschen Soldaten zu sehen, die ins Feld rücken, und bei 20 Jahren, wenn er ein Mann ist, soll er noch davon zehren, daß er diese große Zeit erlebte und soll sich eine Ehre draus machen, für´s Vaterland wirken zu dürfen und zu sterben, wenn´s sein muß.“ (Emil Barthold, Pfarrer in Seefeld bei Werneuchen, 1. September 1914)

Spricht Peter Walther von seinem „Zeitstimmen“-Projekt, dann auch von einer Vielstimmigkeit, die der Literaturwissenschaftler in den kommenden Jahren zum klingen bringen will. „Die Summe der ganz persönlichen Erfahrungen, diese subjektiven Zeugnisse, sollen dann zusammen annähernd ein objektives Bild ergeben.“ Ein Buch, das Geschichte in den Erlebnissen der Menschen in Brandenburg erzählt, ähnlich wie das große „Echolot“–Projekt von Walter Kempowski.

Soweit wie nur möglich zurück in die Vergangenheit sollen die „Zeitstimmen“ reichen. Nur zwei Auswahlkriterien hat Walther dafür aufgestellt. Es muss sich bei den Dokumenten um Tagebücher und Briefe, Fotografien und anderes „Unmittelbares“ handeln. „Dicht und direkt am Geschehen“, sagt Walther. Keine Erinnerungsliteratur, die Jahre später entstanden ist. Und die Dokumente müssen aus dem Land Brandenburg stammen. Und was die Schrift betrifft, bei alten Tagebüchern oft in Sütterlin, hat Walther ehrenamtliche Unterstützung beim „Übersetzen“. Ohne diese Hilfe, so Walther, könnte er das Projekt „Zeitstimmen“ kaum umsetzen.

„Die Russen dringen in Rathenow ein. Mittags um 12 Uhr wurden wir von einem Russen visitiert. Wir atmen auf. Die kommenden Russen sind anständig. Das Bombardement wird immer stärker. Das Haus hat einen Treffer. Tote liegen auf der Straße. Der Krieg tobt in unserer Stadt und bringt Tod und Verwüstung. Voller Angst sitzen wir im Keller.“ (Hildegard Muschan, Kleinunternehmerin, Rathenow, 26. April 1945)

In zwei Jahren, so hofft Walther, soll ein Buch mit den „Zeitstimmen“ erscheinen. Im Internet soll eine Plattform geschaffen werden, auf der dann jeder nach Jahren, Ereignissen und bestimmten Regionen des Landes Brandenburg persönliche Erlebnisberichte recherchieren kann. Wer Briefe oder Tagebücher an das Literaturbüro schickt, kann frei entscheiden, ob sie im Archiv eingelagert oder wieder zurückgeschickt werden sollen. „Vertrauen ist die Basis“, sagt Walther. Und so wird im Buch nur das gedruckt, ins Internet nur das eingestellt, was von den Betreffenden erlaubt wurde. „Ich bin froh über jedes Fragment“, so Walther. Denn jedes erzähle eine eigene Geschichte und füge sich wie ein Puzzleteil in das große Ganze.

Ob das Tagebuch des Lehrers Friedrich Mahlow aus Krams, die Erinnerungen des Pfarrers Emil Barthold aus Seefeld, die kleinen, engbeschriebenen Kalenderhefte von Hildegard Muschan aus Rathenow oder das Brigadetagebuch, geführt von dem Bauern Horst S. aus Garz – Sie alle erzählen Geschichte aus der ganz persönlichen Sicht.

Für Walther ist jede Seite eine Entdeckung. Sie führen ihn ganz dicht heran an die Menschen. Manchmal zitern ihm die Hände, wenn er beispielsweise die kleinen Tagebücher von Hildegard Muschan durchblättert, die nach dem Zweiten Weltkrieg alles notiert hat, damit ihr Mann, der von den Sowjets verhaftet worden war, bei seiner Rückkehr alles nachlesen könne. Sie schrieb bis 1954, ohne zu wissen, dass ihr Mann längst tot war.

Manchmal sind es einfache Sätze, in denen sich die große Geschichte widerspiegelt, sagt Walther. Sätze von Menschen aus Brandenburg, die dabei der Geschichte in diesem Land ein ganz eigenes Gesicht geben.

„Stalin ist gestorben. Wir (einige Genossenschaftsbauern und ich) streuen am 5. 3. 53 Dung auf dem Feld (an der Chaussee nach Garz). Die Glocken läuten weit und breit. Wir nehmen die Mütze vom Kopf und verneigen uns. Tränen stehen in unseren Augen.“ (Horst S., Landwirt in Garz in Ostprignitz-Ruppin, 5. März 1953)

Informationen zum Projekt unter www.zeitstimmen.de oder unter Tel.: (0331) 237 00 258

Dirk Becker

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