Kultur: Die Geduld des Papiers
Walter Kempowski und Joachim Gauck zu Gast bei der Tafelrunde Sanssouci
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Walter Kempowski und Joachim Gauck zu Gast bei der Tafelrunde Sanssouci Am Anfang standen grundsätzliche und sensibilisierende Fragen im Raum: Welche Erinnerungen werden als legitim erachtet, um das Selbstverständnis der Deutschen als Nation zu konstituieren? Wessen Erinnerung kann Öffentlichkeit für sich beanspruchen? Wie bedingen sich privates Gedächtnis und öffentliche Erinnerungskultur? Woraus setzt sich das so genannte kollektive Gedächtnis eigentlich zusammen? Die Tafelrunde Sanssouci hatte zu dem Thema „Archiv und Gedächtnis - über Geduld und Macht der Papiere“ in die Neuen Kammern geladen. Mit Joachim Gauck und Walter Kempowski saßen zwei prominente „Archivare“ deutscher Geschichte im Podium. Der eine hatte die hinterlassenen Spitzelberichte aus 40 Jahren DDR zu verwalten und ist heute Vorsitzender des Vereins „Gegen das Vergessen für Demokratie“, der andere sammelt Tagebücher und Briefwechsel und speist sie ein in sein „Echolot“. Dieses inzwischen zehnbändige Kompendium bringt zum großen Teil bereits früher und andernorts veröffentlichte Erinnerungen in eine besondere Form von Literatur. Sowohl dem Mann der literarischen Öffentlichkeit wie dem amtlichen Aktenverwalter a.D. ist die Bewahrung von Zeugnissen in Archiven eine ebenso notwendige Selbstverständlichkeit wie die gesellschaftlichen Diskussionen über das Erinnern an politische Entwicklungen. Die unterschiedlichen Blickwinkel der Männer, die beide in Rostock geboren wurden, versprachen eine interessante Diskussion, die jedoch bald infolge begrifflicher Ungenauigkeit und dem unbremsbaren Selbstdarstellungstrieb des Dichters aus dem Ruder lief. Statt einer Definition, was mit kollektivem Gedächtnis gemeint sei, einigte man sich auf den Begriff der Medienblasen, die immer wieder aufkämen. Das dahinter liegende Bild der Gärung, der verkommenen Erinnerung, wurde nicht hinterfragt. Der Medienblase will Kempowski die private Erinnerung entgegensetzen und wird nicht müde, sich darüber zu echauffieren, dass ihm und mit ihm einer ganzen Generation nicht zugehört würde. Schuld daran seien die 68er, die der älteren Generation das „Maul“ verbiete und damit deren Erinnerung unter Verschluss hielte. Den Diktaturenbegriff fasst Kempowski gern weit und nutzt ihn für einen generellen Angriff gegen seine Kritiker. Der vermeintlich diktierten Geschichtsschreibung setzt er seine jahrzehntelange Arbeit an den ihm zugesandten, inzwischen 8000 privaten Aufzeichnungen entgegen und fordert die öffentliche Anerkennung seiner Arbeit. Seine Beschwerde über eine zu geringe Präsenz seiner Bücher in den Bibliotheken ist nicht kokettierend. Der Furor der gekränkten Eitelkeit würde wohl, gäbe es juristische Möglichkeiten, den Kauf erzwingen. Einer ernsthaften Erinnerungskultur angemessen, wäre, seiner Meinung nach, eine ritualisierte tägliche Lesung des „Echolots“ an einem öffentlichen Ort in Deutschland. Die Stilisierung zum Einzelkämpfer hat etwas Komisches, doch spätestens, wenn Kempowski den Einspruch Gaucks abwendend, die political correctness eine (Meinungs-) Diktatur nennt, die tödlich sein könne, hallt sein Lamento über einen angeblichen Boykott gegen ihn als Erschrecken nach. Dass den Schriftsteller Kempowski keinen Moment die Opfer verbaler Diskriminierung und die Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung aufgrund von Ethnie und Geschlecht zu interessieren scheinen, stimmt bezüglich seiner Konzeption von Erinnerungskultur nachdenklich. „Geben sie mir doch mal recht, wir müssen das auslöffeln, was uns andere eingebrockt haben“, ruft er am Ende der Diskussion aufgebracht. Lene Zade
Lene Zade
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