Kultur: Die Geschichten hinter den Schichten
Die Schweizerin Daniela Keiser fotografierte Filmarchitekturen / Zur Ausstellungseröffnung im Filmmuseum liest Julia Franck
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Der Löwenzahn im Rinnstein irritiert. Wie auch der Wald, der hinter den Fensterscheiben des Hauses durchblitzt. Was auf den ersten Blick wie eine normale Straße anmutet, erweist sich beim näheren Hinsehen nur als Schein. Die auf den Fotos von Daniela Keiser abgelichteten Fassaden sind aus Pappmaché und als Filmkulissen gebaut. Die Züricherin, die zu den bekanntesten Schweizer Gegenwartskünstlerinnen gehört, war vier Jahre in den Traumfabriken der Welt unterwegs: Sie fotografierte u.a. in Cinecittá in Rom, in den Cinema Studios Tabernas in Andalusien, in den Bavaria Studios München und auch in Babelsberg.
Ab Donnerstag zeigt sie nun im Filmmuseum einen kleinen Ausschnitt aus ihrer großen Kunst-„Stadt“. Mit dabei ist Schriftstellerin Julia Franck. Die ist wiederum an der Seite von Nina Hagen zu erleben: diese allerdings nur in Schwarz-Weiß und auf Zelluloid. Das Zusammentreffen der Frauen lancierte Filmmuseums-Chefin Bärbel Dalichow.
Julia Franck, die 2007 den Deutschen Buchpreis erhielt, schrieb mit an Daniela Keisers Foto–Kunst-Buch „Die Stadt“, das die Ausstellung ergänzt. Fünf Autoren beleben darin mit ihren literarischen Spaziergängen die imaginären Bauten und Landschaften. Julia Franck erfand für ihre Erzählung „Milchmädchen“ die Zwillinge Jenny und Barbara: die eine ist Schauspielerin, die andere ihr Stunt-Double. Beide sind am Drehort fortwährender Verwechslungen ausgesetzt. „Mit der Frage nach Schein und Sein haben wir unser Leben begonnen“, sagen die Figuren.
Julia Franck konnte für diese Erzählung ihre eigene Film- und Zwillingsgeschichte „abrufen“. Schließlich stand sie vierjährig mit Schwester Cornelia selbst einmal vor der Kamera: in dem 1974 gedrehten Fernsehfilm „Heute ist Freitag“. Darin spielt Nina Hagen in herrlichster Natürlichkeit eine junge Schwangere, die mit der Entscheidung ringt, ein Kind zu bekommen oder abzutreiben. Spannend an diesem Schwarz-Weiß-Film ist nicht nur die Spitzenbesetzung mit Kurt Böwe, Dieter Montag, Ursula Werner und Käthe Reichel, sondern auch das DDR-Alltags-„Kolorit“ sowie die diversen Drehorte in Potsdam. In dem vom Filmmuseum ausgebuddelten Streifen ist Klein-Julia ein quirliger Wonneproppen, der allerdings nur einen recht winzigen Part einnimmt.
Daniela Keiser freut sich auf diese filmische Anreicherung ihres Buches: „Eine für den Ort maßgeschneiderte Präsentation. Mein Buch ist der Grund, dass man diesen DDR-Streifen zeigt: Er ist schon ein Dokument, so wie mein Buch auch mal eines sein wird.“
Die Schweizerin fühlte sich während ihres aufwändigen Projekts von der Kunstwelt des Films geradezu angesprungen. „Im Film nimmt man die Kulissen ganz anders wahr, als durch die Optik der Fotokamera. In den Standfotos kann man alles sehen und überprüfen, ja auch die Überlappung mehrerer Filme sichtbar machen.“ Der eine Regisseur benötige für seine Arbeit Pflastersteine, der nächste Asphalt: „Also wird eine Schicht drüber gerollt. Die Spuren der Steine bleiben dennoch. Die Fotokamera ist ideal, diese Schichten festzuhalten: Denn Schichten sind Geschichten.“
Gemeinsam mit Herausgeber Andreas Fiedler suchte Daniela Keiser für das Buch Autoren aus, die eine konkrete erzählerische Sprache sprechen, um die leeren Projektionsflächen vielgestaltig zu beleben. „Die Hauswände stehen wie Spielkarten. Zwischen Wand und Wand ist es leer“, schrieb Judith Kuckart. Und sie ergänzte: „Kulissen bauen, sehen wir, bedarf der schönsten Anstrengung – wie die Liebe.“
Zwischen der oft mit viel Aufwand gebauten Filmarchitektur fing Daniela Keiser auch die Kulisse der Natur ein. So die einzigartige Landschaft in Amerika, durch die einst Winnetou ritt. Von Babelsberg gibt es indes nur einen kleinen Pappelhain. An den hiesigen Studios, die sie erst nach Fürsprache durch das Filmmuseum betreten durfte, faszinierte sie auf den ersten Blick der „Berg“: „den die Potsdamer ,Vulkan“ nennen. Er ist wunderbar schlecht gemacht. Aus jeder Falte lugt das Pappmaché. Aber er wurde für mein Projekt sehr wichtig: als Brücke zwischen Filmarchitektur und Landschaft.“ Für Daniela Keiser ist Potsdam die Stadt hinter dem Berg.
Ausstellungseröffnung: 24. Januar, 20 Uhr, mit Lesung von Julia Franck und Peter Stamm sowie Fotoprojektionen von Daniela Keiser; um 22 Uhr läuft der Film „Heute ist Freitag“.
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