Kultur: Die Jugend der Erinnerung
Michael Wildenhain las im Literaturladen Wist aus „Russisch Brot“
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Michael Wildenhain las im Literaturladen Wist aus „Russisch Brot“ Je älter wir werden, desto weiter tastet sich unsere Erinnerung in die obskure Vergangenheit vor. Der Berliner Schriftsteller Michael Wildenhain, Jahrgang 1958, der am Freitag im Literaturladen Wist seinen nun dritten Roman vorstellte, wird wohl zeitlebens wie ein „junger“ Autor wirken. Auch, wenn die Familienerzählung „Russisch Brot“ einen Zeitraum umfasst, der bis zum zweiten Weltkrieg zurück reicht. Wildenhain, wie er sympathisch breit lächelnd vor dem Publikum saß, schwarzbrauner Haarschopf, silberner Ohrstecker, Jeans, sagte, weiter könnte und wollte er nicht zurück greifen in der Zeit. Nach einem Buch über die West-Berliner Hausbesetzerszene (Die kalte Haut der Stadt), der er zeitweise nahe stand, und einem über die Zeit des RAF-Terrors (Erste Lieb deutscher Herbst) lässt Wildenhain nun den jugendlichen Ich-Erzähler Joachim in der geteilten Stadt nach dem Familiengeheimnis suchen, über das die Mutter nur widerwillig reden möchte. Welche Rolle spielt „Günni“, vom Großvater wie ein Sohn angenommen, der dann hinter der Mauer verschwand? Als Autor von Jugendbüchern liegt Michael Wildenhain die Schlüsselloch-Perspektive des beobachtenden, erforschenden und staunenden Jungen besonders nahe. Durch Astlöcher werden Küsse beobachtet, wenn Lippen sich dabei nicht spitzen, so wird gefolgert, dann kommt echte Liebe ins Spiel. Mit von der Partie ist häufig die gleichaltrige Ost-Cousine Doris, deren Brutalität gegen Kleinstlebewesen – ein Hahn wird beinahe ersoffen, einer Ratte fast das Genick gebrochen – den naiven Stauner in ihren Bann schlägt. Zu den erotischen Klängen von Serge Gainsbourgs „Je t“aime“ wird getanzt: „Zwischen unseren Körpern ließen wir keinen Raum.“ Wildenhain evoziert Kindheitserinnerungen – einen bestimmten Geschmack („Club-Cola“) oder Geruch (Teerpappe), ein einprägsames Bild („Ich sah den Saum ihres Schlüpfers und gewann“), besonders tiefe Empfindungen – die er zu einer bewegten Familiengeschichte inklusive Kriegsfluchttrauma und deutsch-deutscher Tragik rekonstruiert. Zuweilen erscheint das ebenso mühselig, wie der Versuch, aus den Buchstaben einer Tüte „Russisch Brot“ Worte der Poesie zu legen. Wildenhain liest die ausgewählten Passagen mit einer eher getragenen, erhöhenden, jedem Wort besonderen Sinn einhauchenden Aspiration, Doris wird dabei zur nasalen „Nooris“. Das klingt nicht schlecht, etwas so, wie man Spukgeschichten vorliest. Als ob hinter der nächsten Tür ein Gespenst warten würde. Ohne diese stimmliche Magie käme der Text allerdings wesentlich nüchterner, klarer und geschliffener daher. Er bleibt weniger haften. „Russisch Brot“ schmeckt nach dem Dilemma der Jugend. Einerseits, von Neugierde und Wissensdurst geplagt, drängt sie die Eltern zu erzählen, wie es damals mit Krieg und Vertreibung war. Das, was war, auch das selbst Erlebte, muss unbedingt vor dem Vergessen gerettet werden. Wildenhain erzählte im Autorengespräch, dass viele Motive auf Erzählungen seiner Mutter beruhen, auch, wenn der Roman gewiss nicht rein biographisch zu lesen wäre. Anderseits fehlt „Russisch Brot“ der gewisse Firnis, der nur entsteht, wenn keine Erinnerung dem Autoren helfen kann, dann, wenn der Segen des Vergessen eingesetzt hat, den nur das Alter auszeichnet. Dann gilt nur noch Fantasie und was die Sprache daraus macht. Matthias Hassenpflug
Matthias Hassenpflug
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