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Kultur: Die Kinder der „Madame Mathieu“

Marion Kuchenbecker leitet seit 20 Jahren den Großen Kinderchor der Musikschule: Sonntag ist Dornröschen-Premiere

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Das „Oh“ und „Ah“ klingt mehr nach Zahnschmerz als nach Jubelschrei. Da muss sich der Hofstaat von Sansibar noch etwas mehr ins Zeug legen, um seine Euphorie überzeugend rüberzubringen. Schließlich wurde dem Reich die lang ersehnte Prinzessin geboren: das Röschen – mitten in der Rosenzeit. „Also zeigt Eure Freude“, ermuntern Chorleiterin Marion Kuchenbecker und Regisseurin Christina Siegfried die etwas müde Masse. Die Frauen haben es an diesem Montagnachmittag nicht leicht, die Kinder auf die Probe einzuschwören. Immer wieder mahnen sie zur Konzentration: „Stellt Euch vor, ich bin das Fußballfeld“, sagt Marion Kuchenbecker, die weiß, dass viele ihrer kleinen Sänger das EM-Finale bis in die halbe Nacht verfolgten und jetzt natürlich etwas durchhängen.

Aber am Sonntag ist Premiere und nunmehr letzte Gelegenheit, das „Dornröschen von Sansibar“ für die große Bühne des Nikolaisaals herauszuputzen. Mit diesem Singspiel von Hans-Peter Braun frei nach dem Grimmschen Märchen feiert der Große Kinderchor der Musikschule „Johann Sebastian Bach“ sein 20. Jubiläum. Marion Kuchenbecker hält der Unruhe ihre eigene Ruhe entgegen. Freundlich aber bestimmt animiert sie zum Mitmachen: „Kreist die Schultern. Nicht den Mund. Dehnt Euch nach hinten, nach vorn! Lasst beim ,P“ die Lippen explodieren.“ Die quirlige Menge von 55 Kindern der 3. bis 7. Klasse muss erst einmal ankommen, die Schule abschütteln. Doch die Plappermäuler wollen nicht still stehen. Es gibt so viel zu fragen. Frau Kuchenbecker hier, Frau Kuchenbecker dort. Jeder will erhört werden. Und Frau Kuchenbecker schenkt ihnen Aufmerksamkeit – ohne das große Probenziel aus den Augen zu verlieren. „Ich kann nicht verhehlen, dass diese Arbeit durchaus auch zehrt“, sagt die 47-Jährige. Schließlich leitet sie nicht nur den Großen Kinderchor, sondern auch den Gemischten Chor und das Streichorchester Plus der Musikschule, mit denen sie Woche für Woche auf Kreativreise geht. 350 Kinder insgesamt, die sie nicht nur mit Namen, sondern auch mit ihren Freuden und Problemen kennt. „Ich begleite meine Schüler oft durch ganz verschiedene Lebensphasen.“ Viele waren bei ihr schon in der Musikalischen Früherziehung, die die gebürtige Rostockerin in Potsdam aufbaute. Jetzt sind einige dieser „Krabbelkinder“ dabei, Musik zu ihrem Beruf zu machen. So wie sie selbst vor vielen Jahren.

Marion Kuchenbecker verbrachte die 9. bis 12. Klasse im Internat: auf der Chorschule in Wernigerode. „Dort lernte ich, schnell selbstständig zu werden.“ Während ihrer Studentenzeit in Weimar, wo sie sich auf das Diplom als Chor- und Orchesterleiterin vorbereitete, hatte sie zeitgleich eine Assistentenstelle an der Pädagogischen Hochschule Potsdam und dirigierte den Studentenchor. Als sie anlässlich 40 Jahre Deutsch-Sowjetische Freundschaft und 40 Jahre Bodenreform bestimmte Titel mit ins Festprogramm aufnehmen sollte, weigerte sie sich. „Lieder wie ,Die Partei hat immer Recht“ hatten einfach abgewirtschaftet.“ Sie hielt zu den Studenten, die sich ebenfalls „quer“ stellten. Und erhielt die Quittung. Aus politischen Gründen musste Marion Kuchenbecker gehen.

Eigentlich wollte sie nach diesem Debakel Potsdam verlassen. Aber es war schwierig, woanders eine Wohnung zu finden. Also blieb sie an der Havel, und begann an der Musikschule zu arbeiten, die die fachliche Kompetenz höher einschätzte als politisches Schmalspurdenken. Das war 1988. „Ich hatte vorher nie mit Kindern gearbeitet, merkte aber schnell, wie sehr ich sie mag und wie viel ich auch von ihnen lernen kann.“ War es zu DDR-Zeiten noch Pflicht, als Musikschüler auch in einem Ensemble mitzuwirken, sei es heute freiwillig. Dadurch verkleinerte sich der Chor von etwa 85 auf derzeit 55 Schülern, mit immerhin 16 Jungs. „Die nicht ohne Weiteres kommen, denn Chor ist ja nicht immer nur cool.“

Obwohl die Kinder, die in ihren Gruppen musizieren, meist viel Fantasie haben und sehr empfindsam sind, spürt sie auch den materiellen Überfluss. „Die Reizflut ist sehr hoch geworden und die Konzentration immer niedriger. Ich muss mir heute ganz andere Dinge einfallen lassen, um die Kinder zu motivieren, als noch vor 15 Jahren“, sagt die Chorleiterin. Das Wichtigste sei natürlich, den musikalischen Nerv zu treffen und der bewegt sich zwischen den alten Meistern und Pop-Klassik, über deren Auswahl die Schüler mitentscheiden dürfen. „Besonders heftig ist die Vorbereitung des Weihnachtsprogramms, da meist ein Drittel der Sänger neu hinzu kommt. In der zweiten Saisonhälfte erarbeiten wir dann ein Liedprogramm, das überall einsetzbar ist und schließlich geht es an das Singspiel.“

Oft müsse sie ihren Sängern ziemlich auf die Füße treten, dass sie die Arbeit ernst nehmen. „Sie sind nicht nur die lieben, braven Kinder. Manchmal konfrontiere ich sie auch vor der Gruppe mit ihrem Schlendrian. Der Teufel steckt schließlich im Detail.“ Mal sei der Hauptdarsteller nicht da, weil er zum Geburtstag eingeladen ist, mal sind andere Freizeitangebote wie Reiten oder Sport wichtiger. „Aber sie müssen lernen, sich zu entscheiden und Verantwortung zu tragen.“

Das Singen vereine sie aber schließlich alle. Deshalb seien auch die Chorlager immer ein Ereignis. Dort zeigte ihnen Marion Kuchenbecker auch den französischen Film „Die Kinder des Monsieur Mathieu“. Anschließend sei ein Mädchen zu ihr gekommen und habe gesagt: „Weißt Du, eigentlich bist Du unser Monsieur Mathieu.“ Bei solchem Gänsehaut-Kompliment steckt man natürlich auch nervenaufreibende Proben mit Fußball-Nachwehen weg. Und am Sonntag wird das „Volk von Sansibar“ sicher wieder mit vollen Kräften bei der Sache sein und inbrünstig jubeln: „Oh“ und „Ah“.

Premiere 6. Juli, 11 Uhr, Nikolaisaal, Eintritt 4/6 €l

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