Von Gerold Paul: Die Kunst, glücklich zu sein
Heinrich Seidels „Leberecht Hühnchen“ in der Märkischen Leselust des Hans Otto Theaters
Stand:
Wer in „behüteten, bürgerlichen Verhältnissen“ groß geworden ist, wird das reizvolle Buch über Leberecht Hühnchen“ wahrscheinlich noch kennen. Heinrich Seidel hatte es um 1882 in bewusster Abkehr von den damaligen sozialen Problemen in Berlin verfasst. Kleinbürgerliche Idyllik, sagen heute wieder manche dazu, menschliche Substanz, die sich in allen Umständen ihr heiteres Gemüt bewahrt, meinen andere.
Egal, das Team um Hans-Jochen Röhrig war sich am Sonntag jedenfalls nicht zu schade, in einer Art Prachtausgabe ihrer Reihe „Märkische Leselust“ an diesen Schriftsteller zuerinnern, zudem „Leberecht Hühnchen“ auch eine richtig hübsche Weihnachtsgeschichte enthält.
Der Besuch im Theaterneubau war auch diesmal wieder gut, die Akustik im Foyer freilich wie gehabt, da rührt sich nichts. Heinrich Seidel (1842-1906) war ein Mecklenburger aus dem Orte Perlin – und nach seinen Studien des Maschinenbaus und sonstiger Ingenieurskunst zog es ihn auch fast wieder dorthin, er landete in Berlin, baute die vielbewunderte Halle des Anhalter Bahnhofes, konstruierte auch Bahn- und Brückenanlagen für die Linie Berlin-Potsdam. In seinem Ich-Roman taucht er nach dieser Passion auf, doch auch das andere Personal ist vom „Ingenium“ berührt. Herr Gram zum Beispiel, der seit fünfundzwanzig Jahren paradoxerweise darauf wartet, dass sein Schwiegervater in spe endlich stirbt, arbeitet in einem Konstrukteursbüro der Chausseestraße, damals noch ein Industriestandort. Leberecht Hühnchen, Freund und Intimus des Erzählers, macht´s möglich, aus der langen Verlobung endlich eine Hochzeit zu weben.
Ingenieur Seidel, im Zweitberuf „Humorschriftsteller“, erzählt mit warmherzigen Worten vom Händchenhalten und verlegenen Küsschen dieses späten Liebespaares in der langen „Probezeit“, denn ohne elterlichen Segen in eine Ehe zu gehen, soll ja Unglück bringen. Das war am Schönhauser Tor, wo es damals noch Windmühlen und Kornfelder gab.
Der Solovorleser war diesmal Hans-Jochen Röhrig selbst. Mit vielen Stimmen, Gesten und Nuancen gab er jeder Figur fast ungewohnt temperamentvoll ein eigenes Gesicht. Von Christian Deichstetter am Flügel begleitet, sang er sogar ein Duett mit der Sopranistin Gabriele Näther. Lieder von Mendelssohn-Bartholdy, Schubert, aber man hörte auch Weihnachtsweisen sowie das Lied „Dem Ingenieur ist nichts zu schwer“, dessen erste Strophe von Meister Seidel selbst stammt. Seinem Protagonisten verlieh der Autor eine Tugend, welche man ihm selber nachsagte: Die Kunst, glücklich zusein, sich in die Umstände zu schicken und heiteren Gemütes das Beste daraus zu machen.
So lebt Leberecht mit seiner etwas schief gewachsenen Frau Lore und den beiden Kindern tatsächlich glücklich, denn sie lieben sich. Der Hörer dieser und anderer Geschichten wurde im Laufe von neunzig Minuten gewahr, wie sehr ein glücklicher Mensch auch anderebeglücken kann, das späte, aber reiche Mädchen und jenen Major zum Beispiel, welche, bei Hühnchens zur Untermiete wohnend, durch jenen zueinander finden.
Wie Seidels Geschichten-Buch ausgeht, erfuhr man nicht, hier sei’s gesagt: Das erzählende Ich verliebt sich in Leberechts Tochter Frieda, man zieht zusammen in ein größeres Haus. Aus ehemaligen Jugendfreunden sind Schwiegervater und Schwiegersohn geworden – und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute in trauter, fröhlicher Gemeinsamkeit. Tja, wer´s glaubt.
Sehr viel Applaus für diese geglückte, heitere Matinee vor dem Weihnachtsfest.
Gerold Paul
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