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Von archaischer Wucht.

© Oxymoron

Kultur: Die langen Schatten der Düsternis Oxymoron tanzte „Herr der Fliegen“ im T-Werk

Zu sich selbst zu finden hat etwas von der Erkundung des Mondes. Ein fremdes Terrain mit Kratern und undurchsichtigen Tiefen will durchschritten und erobert sein.

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Zu sich selbst zu finden hat etwas von der Erkundung des Mondes. Ein fremdes Terrain mit Kratern und undurchsichtigen Tiefen will durchschritten und erobert sein. Dieser Junge in seinem weiß schimmernden Overall, der allein und in aller Stille die schwarze Bühne durchmisst, nimmt abwägend seine Fundstücke in die Hand. Er wirkt wie ein Astronaut – gestrandet in der Fremde. Doch er ist nicht allein. Immer neue Gestalten tauchen auf: die einen von offener Neugier getrieben, andere in vorsichtiger Ängstlichkeit. Erst ein erlösendes „Hey“ des Erstankömmlings bricht mit der quälenden Klaustrophobie der in Düsternis getauchten Anfangsszene.

Um was es bei dem Tanzstück „Herr der Fliegen“ geht, wissen die beiden Jungs auf den Nachbarplätzen am Ende der Vorstellung nicht zu sagen. Und doch schauen sie zur Premiere am gestrigen Freitagvormittag im T-Werk fast eine Stunde gefesselt dem Geschehen zu. Erst zehn Minuten vor Schluss erfolgt der vielsagende Blick auf die Uhr: bester Seismograf, wenn die Spannung abfällt. Doch bis dahin schafft es diese Inszenierung des Oxymoron Dance Studios in der Regie von U-Gin Boateng und Anja Kozik mitzureißen. Ihr Stück, das in sehr freier Interpretation nach dem Roman von William Golding entstand, setzt sich mit Konflikten auseinander, die entstehen, wenn sich junge Leute zu einer Gemeinschaft formieren. Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Ordne ich mich unter oder will ich Anführer sein? Wie weit gehe ich mit, um in einer Gruppe dazuzugehören? Die Suche nach den Regeln des Zusammenlebens kann Beulen verursachen. Sie kann sogar tödlich sein.

Wenn die Tänzer ihre Stöcker im unheilschürenden Takt auf die Bühnenbretter knallen lassen, ahnt man die Katastrophe. Und doch kommt sie in dieser Härte überraschend. Wie die Indianer vor der letzten Schlacht formieren sie sich mit Kampfgesängen. Wilde Schreie heizen die Stimmung an. Und dann liegt er am Boden: dieser kleiner Forscher, der sanftmütige Himmelsstürmer. Um seinen leblosen Körper wird ein weißer Kreidestrich gezogen. Ein kleines Mädchen kniet neben ihm, streichelt zart über den Rücken des Leblosen, wie eine Pieta. Eine bewegende, leise Szene – mit Paul Homm und der bereits sehr ausdrucksstarken achtjährigen Renée Carlotta Gerschke. Eigentlich eine Schlussszene. Doch dann folgt ein Epilog. Und noch einer. Weiße Engel, schwarzer Trauerflor – und immer wieder die Schatten des Toten. Und dann diese Vision: Die Tänzer berühren sich zärtlich, küssen liebevoll die Haut des anderen – und wiegen sich sanft wie Ähren im Kornfeld. Jeder für sich, doch alle gemeinsam. So könnte es sein, und so wird es nie werden. Aber den Traum davon darf es geben.

Den Choreografen Timo Draheim, Agnes Wrazidlo, Isabell Gerschke und Prince Ofori sind mit den Mitgliedern ihrer Kurse Break Dance, Street Dance, Hip-Hop, Modern und Improvisation zum Teil sehr ungewöhnliche und eindringliche Bilder gelungen, die die Handlung vorantreiben oder einfach eine Freude für die Augen sind, wie das energieentladene zackige Gewitter. Kraftstrotzend geben sich die Hip-Hopper mit ihren wilden Drehungen. Cool und herausfordernd und doch punktgenau zu den harten Beats. Und dann tauchen diese kleinen Mädchen auf in ihren braven karierten Kleidchen und besänftigen die raubeinigen Gemüter wie mit zarter Feenhand. Eine trügerische Ruhe. Die Gruppe splittet sich. Die Tänzer wechseln die Fronten. Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Wer bleibt auf der Strecke? Fragen – bilderreich gestellt, von archaischer Wucht und in sehr heutiger Präsenz.Heidi Jäger

Wieder am heutigen Samstag, 19 Uhr und am morgigen Sonntag, 17 Uhr, T-Werk, Schiffbauergasse, Eintritt 6/erm. 4 Euro

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