zum Hauptinhalt

Kultur: Die letzten Grenzer

Erst sollten sie die Mauer schützen – dann einreißen und abbauen. Jörg Kirchhoff und Thomas Köhler erlebten das Wendejahr als NVA-Soldaten. Von Steffi Pyanoe

Stand:

Was für eine Ironie der Geschichte. Jörg Kirchhoff und Thomas Köhler, die noch kurz vor dem Mauerfall zur Armee eingezogen wurden und quasi als letzter Jahrgang die innerdeutsche Grenze bewachen sollten, werden am Sonntag zur Mauerfalljubiläumsfeier an der Glienicker Brücke den Ausschank übernehmen. Dann soll mit ihrem Bier auf den 9. November angestoßen werden. Die beiden ehemaligen Grenzer finden das lustig. Das hätten sie sich damals nicht vorstellen können. Und alles andere auch nicht.

Köhler und Kirchhoff gehört die Braumanufaktur Forsthaus Templin. 2003 haben die beiden Freunde die Privatbrauerei gegründet. „Wir hatten so ein Glück“, sagt Thomas Köhler rückblickend. Denn Soldaten, die einen Monat zuvor eingezogen worden waren, durchlebten im Herbst 1989 noch durchaus brenzlige Situationen, wurden an der Grenze zu Tschechien und bei Demos als menschliches Schutzschild eingesetzt. „Alle waren nervös, die Waffenkammer, sonst einfach abgeschlossen, wurde streng bewacht.“ Auch Kirchhoff und Köhler bekamen das noch mit – wurden aber bald zur Demontage des antifaschistischen Schutzwalls eingesetzt und erlebten bis zum Oktober 1990 den kompletten Zerfall der Nationalen Volksarmee.

Der Potsdamer Thomas Köhler und der Kleinmachnower Jörg Kirchhoff lernten sich während der Lehre zum Brauer und Mälzer im VEB Getränkekombinat Potsdam kennen. Der selbe Jahrgang und der selbe Anfangsbuchstabe des Nachnamens führten dazu, dass sie gleichzeitig zum Wehrdienst eingezogen wurden. „Wir wollten beide studieren – aber ohne uns deswegen für drei Jahre Armeedienst zu verpflichten“, sagt Köhler. Deshalb griffen sie zu, als sie gefragt wurden, ob sie an die Grenze gehen würden. Um Punkte zu sammeln. „Außerdem war die Verpflegungspauschale eine Mark pro Tag höher“, erinnert sich Kirchhoff. Dass sie auch auf Flüchtlinge hätten schießen müssen, blendeten sie aus. „Du hättest ja danebenzielen können, wer soll das nachweisen?“, sagt Köhler.

Wenn sie von dem irren Jahr erzählen, sprudelt es aus ihnen heraus. Die Umwälzungen in der DDR waren damals bereits absehbar, am ersten November nahm Köhler sogar noch an der Demo auf dem Weberplatz teil. „Da ging es unter anderem um die Abschaffung der Wehrpflicht – und einen Tag später wurde ich eingezogen, musste mich früh um fünf Uhr am Luftschiffhafen melden“, sagt er. Zur Grundausbildung kamen beide nach Plauen im Vogtland. Die Neuen wurden an einer tief im Wald versteckten Schulungsgrenze ausgebildet, „mit beheizbarem Wachturm“, sagt Köhler. Bis ins letzte Detail können beide noch heute den Aufbau einer Standard-Grenzanlage erklären, wie viele Zäune, welcher Abstand, Hundespur, die diversen Wachturmbautypen. Und was passierte, wenn jemand den Stacheldraht berührte. Dann schloss sich durch spezielle Kontakte ein Schwachstromkreis und die Posten bekamen Meldung, wo etwas vor sich ging. „Bis auf 50 Meter genau!“

Auch die Grenzanlage im Film „Bornholmer Straße“, nachgebaut nach einem Entwurf des Potsdamer Szenenbildners Lars Lange, sei realistisch gewesen. Und dass die Grenzer in der Bevölkerung nicht unbedingt beliebt waren, erlebten auch die beiden Potsdamer, wurden beim Ausgang angefeindet, weshalb man lieber in der Gruppe ausging. Viel schlimmer fanden sie es jedoch, dass sie von all den politischen Vorgängen wenig mitbekamen. „Uns war zum Heulen zumute – all unsere Freude und Familien fuhren in den Westen, wir durften streng genommen nicht mal West-Radio hören“, klagt Köhler. Und trotzdem hörten sie in der Nacht des 9. November von den unerhörten Vorfällen. „Die Politoffiziere waren danach völlig aufgeschmissen und wussten nicht mehr, was sie uns erzählen sollten“, sagt Köhler und lacht. Anfang Dezember wurden sie vereidigt, doch immer seltener machten sie Dienst nach Vorschrift. Kurz vor dem ersten Urlaub zur Weihnachtszeit, am 20. Dezember, holte sich dann auch Thomas Köhler endlich sein Begrüßungsgeld im Bayrischen Hof. Und Jörg Kirchhoff entschied sich nach dem Weihnachtsurlaub, seine Waffe abzugeben. „Ich sah darin keinen Sinn mehr“, sagt er. Stattdessen ging er nun wie manch andere Kollegen in die Produktion, in der Tütensuppenfabrik, in der Plauener Gardinenweberei, Pakete sortieren bei der Post. Weil immer mehr aus der Bevölkerung in den Westen abhauten, fehlten dort Leute.

Dann folgte die Versetzung nach Oranienburg. Noch im Frühjahr 1990 sei man davon ausgegangen, dass die Grenze bestimmt weitere fünf bis sechs Jahre gebraucht würde. Die Soldaten flickten Zäune und Mauern, dort, wo Touristen oder nur Bürger Löcher hinterlassen hatten. Absurd sei das gewesen. Dazu wurden neue Grenzübergänge gebaut, die man meinte zu brauchen. DDR-Bungalows mit Zaun drumherum. Die Soldaten protestierten – das ganze Flickwerk sei Verschwendung von Volkseigentum. Am 1. Juli wurden die Grenztruppen dann endlich aufgelöst, die Grenzanlagen seitdem abgebaut, mit Kran, Bagger und großen Ural-LKWs die Mauern und Zäune auseinandergenommen, der Schutt abtransportiert. Köhler und Kirchhoff waren dabei vornehmlich an der westlichen Berliner Grenze eingesetzt. Am Hennigsdorfer Ortsrand bekamen sie von Anwohnern Kaffee und Kuchen und wurden gefilmt.

Auch um die arbeitslosen Wachhunde mussten sie sich kümmern. Die Tiere wurden von Tierschützern oder Züchtern adoptiert. Der kostbare Stahl-Stacheldraht, einst aus Schweden teuer importiert, wurde sauber aufgewickelt und bis nach Kanada verkauft, dort wiederverwendet als Weidezaun. Vom Stacheldraht nahmen sich auch Köhler und Kirchhoff einige Meter als Erinnerung mit – und einige landeten in Kleinmachnow, um die Wildschweine vom Garten der Kirchhoff-Familie fern zu halten. Und sie ergatterten eines der heiß begehrten Warnschilder „Grenzgebiet“. In Zeitungspapier eingewickelt brachte es Thomas Köhler nach Hause, im Bus durch die Grenzkontrolle am Übergang Dreilinden. Aus dem Armeeausverkauf schnappte er sich ein ordentliches Schlauchboot, „mit Holzboden!“ – für etwa 50 Mark. Luftgewehre und Feldküchen, Schreibmaschinen und selbst Armee-Trabis waren damals spottbillig zu haben. „Aber wer wollte damals noch so einen alten DDR-Kübel“, sagt Jörg Kirchhoff.

Alles änderte sich – auch die Begrifflichkeiten. Aus „Genosse Soldat“ wurde „Herr Soldat“, aus den „Klassenfeinden des BGS“ wurden die „Kollegen des BGS“. Und je mehr sich der Armeeapparat auflöste, desto öfter wurden sie für zivile Aufgaben eingesetzt. Bauten einen Gartenzaun um ein Seniorenheim, kochten Schulspeisung mit Feldküchen. „Wir haben also noch was Vernünftiges gemacht“, sagt Jörg Kirchhoff. Im März wurden sie nochmal vereidigt – auf die neue De-Maizière-Regierung. Einen dritten Treueschwur nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober ersparte man den Soldaten – und der Bundeswehr. Neue Uniformen für nur einen Monat der inzwischen auf ein Jahr verkürzten Dienstzeit hätten sich nicht gelohnt. Köhler und Kirchhoff wurden vorzeitig entlassen. Und begannen wenig später, an der TU Berlin zu studieren – auch das war vor 25 Jahren undenkbar gewesen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })