Von Almut Andreae: Die Schere als Verbündete
Künstler des Neuen Atelierhauses Panzerhalle Groß Glienicke: Diesmal Katrin von Lehmann
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Würde man Katrin von Lehmann auffordern, eine typische Handbewegung zu machen, wäre das ein Stich ins Wespennest. Die Berliner Künstlerin im Neuen Atelietrhaus Panzerhalle in Groß Glienicke greift in ihrer Arbeit mit Vorliebe Handlungen auf, die sie durch das Nachzeichnen der erinnerten Handbewegungen über mehrere Wochen und Monate hinweg dokumentiert. Im Laufe dieses Prozesses versucht sie, die Bewegungen zu rekonstruieren, die für die Ausführung von Alltagshandlungen notwendig sind.
Selbstverständliche Dinge wie das Falten von Papier oder sich an- und auszuziehen erweisen sich als hochkomplex, wenn es an das Aufzeichnen der erinnerten Bewegungsabläufe geht. Dafür nimmt sich Katrin von Lehmann immer wieder Zeit, viel Zeit. Bei der hochkonzentrierten Arbeit des synchronen Zeichnens mit beiden Händen hält sie die Augen meist geschlossen. Diese Arbeitsweise wurde vor Jahren durch einen ganz konkreten Anlass angestoßen.
Im Zuge ihrer Studienabschlussarbeit an der Kunstakademie in München Ende der 80er Jahre hatte die Künstlerin über einen längeren Zeitraum ein blindes Paar begleitet und dabei selber angefangen, mit geschlossenen Augen zu zeichnen. Diese gesteigerte (Selbst)-Wahrnehmung ist zum einen faszinierend. Zum anderen führt sie zu einer immer intensiver werdenden Verinnerlichung erlebter Situationen. Im Zuge der wiederholt aufgezeichneten Erinnerungshandlung passiert etwas Eigenartiges: Zeichnung für Zeichnung knüpft die Künstlerin unwillkürlich nicht nur an die ausgeführten Bewegungen, sondern auch an die seither bereits entstandenen Zeichnungen an. Einfach, weil sich die Erinnerungen im Laufe des Prozesses gegenseitig immer mehr überlagern.
Am Ende steht die Erkenntnis, dass aus Handlungsmustern auf dem Weg der Zeichnung Erinnerungsmuster geworden sind. Und da der Erinnerungsimpuls von Mal zu Mal ein anderer ist, ändert sich auch das jeweilige Ergebnis. Aus der Wiederholung die Variation herauszukitzeln, stimuliert Katrin von Lehmann immer wieder zu neuen Arbeitszyklen. Wiederholung, Erinnerung, Variationen sind die Trias ihres prozesshaften Tuns.
In einer erst kürzlich vollendeten Arbeit mit dem Titel „Erinnerungsfortschritt“ hat die Künstlerin den gezeichneten Prozess einer erinnerten Handlung durch einen willkürlichen Eingriff in ganz neue Bahnen gelenkt. Vierzig Zeichnungen im Format 40 x 60 cm zerschnitt sie in jeweils 16 gleichgroße Stücke. „Ich habe irgendwann gemerkt, dass es nicht wichtig ist, die einzelne Zeichnung zu zeigen, sondern den Prozess“, erklärt die Künstlerin. Um den Prozess gleichsam zu komprimieren, hat sie die 460 exakt gleichgroßen Papierausschnitte der Reihenfolge ihrer Entstehung nach chronologisch übereinander gestapelt. Was in der Fläche als Zeichnung begann, wurde körperhaft: verwandelt in eine Wandskulptur.
Der Schere als Arbeits- und Handlungsinstrument fällt im Entstehungsprozess eine tragende, ja entscheidende Rolle zu. Was Katrin von Lehmann vor allem an der Schere gefällt ist „dass sie so eindeutig ist“. Die Künstlerin, die außer mit Papier auch mit eigenen Aufnahmen, häufig entstanden im Wald, „operiert“, ist seit Jahren bekannt dafür, dass sie ihre eigenen Fotos in schmale Streifen zerschneidet. Was auf den ersten Blick destruktiv scheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als das genaue Gegenteil. Ausgehend von der Frage, was ein fotografisches Bild jenseits seiner Abbildungsfunktion noch alles leisten kann, liegt das Experimentelle auf der Hand. Verändert man den Zustand eines Rohmaterials wie im Falle einer Fotografie, die man in viele Einzelteile zerschneidet, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten. Längst ist die Schere zur Verbündeten Katrin von Lehmanns geworden. Wenn die Künstlerin ihre zerschnittenen Fotos streifenweise miteinander verflechtet, entstehen ganz neue, faszinierende Bilder.Infos zur Künstlerin und ihren aktuellen Ausstellungsbeteiligungen unter www.vonlehmann.com.
Almut Andreae
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