
© Andreas Klaer
Wolfgang Thierse zu Gast in der Reithalle: Die Sehnsucht nach Einfachheit
Das Konzept, alle betroffenen Seiten an einen Tisch zu bekommen, um Visionen auszuformulieren, hat Dramaturg Christopher Hanf in seiner Veranstaltungsreihe „Welches Land wollen wir sein?“ ausgefüllt.
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Das Konzept, alle betroffenen Seiten an einen Tisch zu bekommen, um Visionen auszuformulieren, hat Dramaturg Christopher Hanf in seiner Veranstaltungsreihe „Welches Land wollen wir sein?“ ausgefüllt. Am Mittwochabend fand in der Reithalle die letzte der Podiumsrunden statt und längst erscheint nicht mehr nur die „Wir schaffen das“-Fraktion.
Geladener Gast war Esra Kücük, gebürtige Hamburgerin und Gründerin der „Jungen Islamkonferenz“. Das war 2010, für Kücük ein Wendepunkt in der Debattenkultur: Mit dem Erscheinen von Thilo Sarrazins säuerlichem Gesellschaftspamphlet „Deutschland schafft sich ab“ bekam die Identitätsfindung neuen Schwung. Für Kücük war das deutlich: Als sie in Frankreich studiert habe, war sie die Deutsche, zurück in Deutschland war sie die Türkin. „Plötzlich kam ein neues Stereotyp hinzu: Das hieß muslimisch sein“, sagt sie. Kücük ist eine genaue Beobachterin der Debattenkultur: „Begriffe wie Leitkultur schaffen negative Identitäten“, sagt sie. Im Klartext: Die ganze Leitkultur-Debatte dient einzig und allein dem Ausschluss, nicht der Integration.
„Eine tiefe Krise der repräsentativen Demokratie“ nennt Wolfgang Thierse das Erstarken des Rechtspopulismus in Europa. Der ehemalige Bundestagspräsident ist an diesem Abend ein Glücksgriff, der sich nicht aus der Ruhe bringen lässt. „Deutschland ist kein Einwanderungsland“, sagt er. Und ergänzt: „Diese Lebenslüge musste endlich und endgültig beerdigt werden.“ Sich aber mit Grenzzäunen in der Illusion des ewigen Wohlstands einmauern? Kommt für Thierse gar nicht infrage. Integration ist anstrengend, aber notwendig: „Die, die herkommen, sollen heimisch werden im fremden Land und die Einheimischen sollen nicht fremd im eigenen Land werden.“ Dazu werde auch ein Einwanderungsgesetz nötig sein. Aber Identitätsverlust? Nö: Deutschland sei eine Erinnerungsgemeinschaft, sagt Thierse etwa, da gelte Auschwitz eben auch für Muslime.
Zugleich melden sich in der Reithalle auch die Stimmen der besorgten Bürger selbst zu Wort: Er trage doch nicht die Verantwortung für das, was vor 1945 passiert sei, sagt ein Mann aus Fahrland. Er habe Angst, seine Meinung zu sagen, auch davor, dass Politiker nationale Interessen hinter die Interessen des Auslandes stellen. „Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten“, sagt er noch, bevor er kurz darauf die Veranstaltung verlässt. Wolfgang Thierse sieht solche Sprüche entspannt: „Je komplexer eine Problemsituation ist, umso stärker wird die Sehnsucht nach einer einfachen Erklärung.“ Es wird also noch viel zu diskutieren geben.
Oliver Dietrich
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