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Erinnerungslos: Kathrin Schmidts Roman Du stirbst nicht erzählt von Helene, die halbseitig gelähmt und dem Klinikalltag ausgeliefert ist. Halt findet sie in ihrem eigenen unversiegten Mut.

©  Archiv Manfred Thomas

Von Daniel Flügel: „Die Sprache, das schlafende Tier“

Kathrin Schmidt stellt morgen in Potsdam ihren preisgekrönten Roman „Du stirbst nicht“ vor

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Einige waren nicht sehr überrascht, als Kathrin Schmidt im Oktober vergangenen Jahres für ihren Roman „Du stirbst nicht“ mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Gewiss nicht wenige hatten mit Herta Müller gerechnet. Aber die Nörgler tuschelten schon, die hohe Ehrung sei ja zumindest dem aktuellen Lesetrend treu geblieben, demnach sich bedrückend traurige Geschichten und Krankenberichte gerade wieder besonders großer Beliebtheit erfreuen. Nur – ist Kathrin Schmidts mittlerweile vierter Roman nichts weiter als „en vogue“? Denn den bestsellertauglichen Oberflächlichkeiten wird ihr Roman glücklicherweise nicht gerecht, erzählt sie doch in „Du stirbst nicht“ keine sentimentale Leidensgeschichte, nur einfach mal auf hohem Niveau, kein von Betroffenheitskitsch überladenes Rührstück. Nein, in ihrem Werk, in dem sich auch die eigene, persönliche Krankheitserfahrung von Kathrin Schmidt widerspiegelt, besiegt ein Mensch nicht nur physisch seine schwere Krankheit, er erkämpft sich in einem ebenso mühsamen Prozess auch seine verlorene Identität zurück, wozu er insbesondere seine Sprachmacht ganz neu errichten muss. Es ist eine Expedition in das eigene Selbst, zurück in die vertraute Welt, aber zugleich auch nach vorn auf bislang unbekanntes Gebiet. Es ist die Geschichte einer Befreiung. Am Mittwoch stellt die in Berlin lebende Lyrikerin und Autorin Kathrin Schmidt in der Villa Quandt ihren Roman „Du stirbst nicht“ vor.

Halbseitig gelähmt, sprechunfähig und ohne Erinnerungen erwacht Helene Wesendahl nach einer erlittenen Hirnblutung in einem Krankenbett, umringt von ihren lächelnden Angehörigen, die sie zuerst nicht erkennt. Helene ist eine Schriftstellerin, die ihre Sprache verloren hat und auch nicht mehr weiß, dass gerade ihr zweiter Roman veröffentlicht wurde. So ist sie eingekapselt in ihrem Körper, ihrem Kopf, und sieht sich hilflos, jedoch nicht mutlos fortan der „Wildnis der Wahrnehmung“ eines spröden, unfreundlichen Klinikalltags ausgesetzt. Allein dass sie die Welt und sich darin wieder finden will, ist Helenes erste Sicherheit. Und noch bevor sie „die Sprache, das schlafende Tier“ dann tatsächlich, anfangs noch tastend, spärlich reduziert und mit unbeholfen banalen Sätzen und dann immer beweglicher, intensiver und schon aufbäumend, wieder zum Leben erwecken kann, kehren zuerst weiter zurückliegende Erinnerungen wieder.

Gleichauf im unberechenbaren Tempo der Genesung setzt sich Helenes Vergangenheit zusammen, zunächst bruchstückhaft und bald in komplexeren Passagen. Sie sieht ihre Kindheit in Ostberlin, ihre eigenen Kinder und die frühen Ehejahre mit Matthes, ihrem Mann, der sie häufig in der Klinik besucht und sich ehrbar um sie kümmert. Doch Helenes hartnäckige Suche nach Vergessenem, die sie mit Hilfe gespeicherter E-Mails vorantreibt, lässt sie auch auf bislang Verdrängtes, Schmerzhaftes und Verstörendes stoßen. Da trifft sie plötzlich und heftig die Erinnerung an Viola, eine transsexuelle Frau, mit der sie eine Liebesbeziehung hatte, der die Ehe mit Matthes doch scheinbar bereits zum Opfer gefallen war.

Beachtlich und auffällig an diesem Entwicklungsroman ist die Darstellung der mit den neuen Gewissheiten angefüllten und durch die Krankheit unverstellten, ja anfangs emotionslosen Empfindungen von Helene Wesendahl. Bis zu ihren befreienden Tränen ist es ein weiter Weg, der den Leser fordert. Indem die Autorin zudem auf eine Ich-Erzählerin verzichtet, entsteht andererseits auch eine Distanz zu den teilweise recht heftigen, gnadenlosen Beschreibungen des für die Angehörigen und den Leser Fürchterlichen. Die Situationskomik, die aber gerade dadurch trefflich gelingt, ist verblüffend und vielleicht die größte Überraschung in diesem Roman. Jammervolle und tragische Schicksalsberichte vermögen das nicht zu leisten.

Kathrin Schmidt liest am morgigen Mittwoch um 20 Uhr in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstr. 46/47. Der Eintritt kostet 7, ermäßigt 5 Euro. „Du stirbst nicht“ ist beim Kiepenheuer und Witsch Verlag in Köln erschienen und kostet 19,95 Euro

Daniel Flügel

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