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Kultur: Die Stasi saß mit am Tisch

Vom Mädchen zum IM. Angela Marquardt sprach bei Wist über ihre Vergangenheit als Kinderspitzel

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Zwei Frauen, zwei Lager. So meint man. Am vergangenen Donnerstagabend hat Ulrike Poppe mit Angela Marquardt im Literaturladen „Wist“ in der Brandenburger Straße über deren DDR-Vergangenheit gesprochen. Anlass dazu gab das Buch „Vater, Mutter, Stasi“, das Marquardt im Februar veröffentlicht hat. 2002 war bekannt geworden, dass die ehemalige „PDS-Punkerin“ aus Greifswald – wie viele Medien sie gerne bezeichneten –, zeitweiliges Mitglied im Deutschen Bundestag, inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit gewesen ist. Mit 15 hatte sie eine Verpflichtungserklärung unterschrieben. Daran könne sie sich nicht erinnern, sagt sie. Bis heute. 2002 war es ein Skandal für ihre Fraktion: Marquardt, eine Linke, die ihre Partei wegen fehlender Bewältigung der DDR-Vergangenheit anklagt, soll ein Stasi-Spitzel gewesen sein?

Poppe hingegen hat eine weiße Weste: Oppositionell bis ins Mark sozusagen. Heute ist sie 62 und Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der DDR-Diktatur. Zu DDR-Zeiten engagierte sich die gebürtige Rostockerin für verschiedene Bürgerrechtsbewegungen wie die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ und „Demokratie Jetzt“. Nach dem abgebrochenen Studium arbeitete sie mit Heimkindern. Bei Poppe zu Hause schaute man Westfernsehen und schimpfte bei verschlossener Tür über die Regierung, während Marquardts Großvater die Pakete seines Bruders aus dem Saarland ungeöffnet zurückschickte. Aus dem Westen kommt nichts Gutes, hat er wohl gedacht.

Zwei Frauen also, deren Bewusstsein um die Repressionen des DDR-Regimes unterschiedlicher nicht sein könnte. Am Donnerstagabend sitzen sie zusammen und sprechen über Täter und Opfer, Schuld und Verantwortung. Begriffe, die vor dem Hintergrund von Marquardts Geschichte zu unzuverlässigen Kategorien verschwimmen. „Zwischen Täter und Opfer gibt es eine Grauzone“, sagt Poppe. „Die Etikettierung ,IM’ oder ,nicht IM’ entspricht nicht der Lebenswirklichkeit. Es wird oft viel zu pauschal geurteilt.“

Marquardt selbst sagt, ihre Tätigkeit als „Kinder-Spitzel“ sei ihr erst bewusst geworden, als man sie mit ihrer Akte konfrontiert hat – eine „Täterakte“, wie sie sagt. Dass ihr Großvater, ihre Mutter und ihr Stiefvater IMs gewesen sind, sagt sie dem Parteivorsitzenden Gregor Gysi schon vor 1998, als sie in den Bundestag gewählt wird. Die Akten ihrer Familie hat sie jedoch nie gelesen. Alle zerstört, hieß es. Dass sie selbst auch als Zahnrad in der Spitzel-Maschine funktioniert hat, wirft sie erst mal aus der Bahn. Die 44-Jährige war von der Stasi als Langzeit-Projekt angelegt worden – als sogenannter Perspektiv-IM. Ihr Leben ist in einem „Einsatz- und Entwicklungskonzept“ bis zum Jahr 1995 durchgeplant. Sie soll Theologie studieren, um nachher in den Greifswalder Kirchenkreis infiltriert zu werden.

„Ich gucke immer in viele fragende Augen“, sagt sie. Es herrsche oft grobes Unverständnis dafür, dass die damals 15-Jährige nichts von der Überwachung durch die Stasi gewusst haben will. Schon im Immunitätsausschuss des Bundestags wird ihr 2002 von der Grünen-Abgeordneten Steffi Lemke Naivität vorgeworfen. „Für mich war das MfS Alltag. Die saßen mit uns am Küchentisch, von denen lagen Geschenke unterm Weihnachtsbaum“, sagt sie. Bis zur Wende sei ihr nicht mal der Begriff „Stasi“ geläufig gewesen. „Für mich war das das Ministerium für Staatssicherheit. Ein ganz normaler Arbeitgeber.“ Dass sie sich nicht daran erinnern kann, die Verpflichtungserklärung unterschrieben zu haben, kann sie sich nur so erklären, dass es kein bedeutsamer Moment für sie gewesen sei.

Erst ihr Buch erklärt, warum. Marquardt war von ihrem Stiefvater jahrelang missbraucht worden. Als die Familie nach Frankfurt an der Oder zieht, will die 15-Jährige in Greifswald bleiben, um so den Übergriffen zu entgehen. Ihr wird ein Vormund zugeteilt, ebenfalls bei der Stasi. Und die Familienfreunde Jörg V. und Jörg S. kümmern sich weiterhin väterlich um sie, gehen bei den Marquardts weiterhin ein und aus. „Meine Realität war damals: Wer holt mich vom Judo ab?“, so Marquardt. Und das sind die Führungsoffiziere, die so eine Kontrolle über die Jugendliche gewinnen. „Ich habe denen mein Herz ausgeschüttet“, so Marquardt. In ihrer Akte wird vermerkt: „Muss noch auf die Spur gebracht werden, stichhaltige Informationen zu liefern. Erzählt zu viel von persönlichen Problemen.“

„Meine Minderjährigkeit entbindet mich nicht von der Verantwortung“, sagt Angela Marquardt, die inzwischen SPD-Mitglied ist und seit 2006 für Andrea Nahles arbeitet. Wenn sie spricht, schwankt sie zwischen Rechtfertigung und Schuldbekenntnis. „Eine Erklärung wird oft als Rechtfertigung gewertet“, sagt Poppe, „aber auch hier gibt es eine klare Überlappung.“ Dass die Stasi Kinder für ihre Zwecke missbraucht hat, empfinden die beiden Frauen als grobes Unrecht. Theresa Dagge

Theresa Dagge

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