Von Klaus Büstrin: Die verborgene Kraft der Ikonen
Das Museum Alexandrowka zeigt zum 180-jährigen Bestehen der Newski-Kirche Sonderausstellung
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Das Jüngste Gericht gibt es an der Westwand. Dort, wo die Gläubigen die Kirche wieder verlassen. Mit einem unübersehbaren Fingerzeig wird darauf hingewiesen, welche Qualen der Mensch in der Hölle zu erleiden habe, wenn er nicht den Weisungen Gottes folge, aber auch auf die Freuden, die er am Throne des Höchsten mit den Engeln und Heiligen erleben könne. Ein zentrales Bild in der Ikonographie der Orthodoxen Kirche.
Auch in den oberen Räumen des Alexandrowka-Museums hängt es ganz zentral an der Westwand. Es ist nicht zu übersehen. Die Ikone gehört zu den 54 Exponaten, die ab 25. März in der Sonderausstellung „Das Heilige Jahr“ gezeigt werden. Der Museumsleiter, Andrej Tschernodarov, wählte Monats- und Festtagsikonen sowie Kirchenkalender aus, die er als Leihgaben aus Privatsammlungen sowie aus dem Ikonenmuseum Recklinghausen und dem Völkerkundemuseum Heidelberg zusammentrug. Aus dem 16. bis zum 19. Jahrhunderts stammen die Werke.
Der seit wenigen Monaten das Alexandrowka-Museum der Stiftung Kremer leitende Altphilologe und Kunstwissenschaftler ist seit eh und je mit den Ikonen vertraut. In Sibirien geboren, in St. Petersburg aufgewachsen, dort und in Jekatarinenburg studierend, gehören die Ikonen zum Glaubensalltag des orthodoxen Christen. Die Bilder, die ältesten erhaltenen, stammen aus dem 6. Jahrhundert. Sie sollen Ehrfurcht erwecken und eine existenzielle Verbindung zwischen dem Betrachter und dem Dargestellten ermöglichen, auch zwischen dem Betrachter und Gott. Sie sind in der Orthodoxen Kirche weder ein Kunstgegenstand noch Dekoration.
Für Andrej Tschernodarov und für das Museum gibt es in diesem Jahr einen besonderen Anlass, die Ikonenausstellung zu präsentieren: die Weihe der Alexander-Newski-Gedächtniskirche vor 180 Jahren auf dem Kapellenberg, nach julianischem Kalender am 30. August, nach dem gregorianischen am 11. September 1829. „Das vom russischen Architekten Wassilij Stasow entworfene Gotteshaus und der von Schinkel ausgestattete Innenraum stellt, wie die gesamte Kolonie Alexandrowka, eine Synthese der Ost-West-Kulturtraditionen dar“, sagte der Museumleiter den PNN. „Um diesen Kulturtransfer zu betonen, wurde die Auswahl der Exponate in unserer Ausstellung auf die in Deutschland vorhandenen Kunstwerke beschränkt“.
Am Eingang prangt die Ikone mit dem Bildnis des heiligen Alexander Newski, des Patrons der Kapellenberg-Kirche. Dieses Bild ist Eigentum der Kremer Stiftung. Ursprünglich hing es in der Kirche des russischen Dorfes Potschinok. Die Ikone wurde 1861 anlässlich der Aufhebung der Leibeigenschaft durch den Zaren Alexander II. gestiftet. Wie sie nach Deutschland kam, ist Andrej Tschernodarov nicht bekannt. Alexander Newski gilt als russischer Nationalheld und ist ein Heiliger der Orthodoxen Kirche. Er regierte im 13. Jahrhundert als Fürst von Nowgorod und als Großfürst von Wladimir. Newski führte den Kampf gegen das Eindringen des Ritterheeres des Deutschen Ordens in Russland an.
„Die kostbaren Monats- und Festtagsikonen zeigen vor allem die biblisch-lineare Entwicklung der Geschichte von der Schöpfung bis zur zweiten Ankunft Christi in der Darstellung des Jüngsten Gerichts“, so der Museumschef, „aber auch die zyklische Zeitvorstellung, die in den Kirchenkalendern zu finden sind.“ Die Künstler in den Klöstern und Werkstätten, deren Namen aus den früheren Jahrhunderten zumeist unbekannt geblieben sind, haben die verschiedensten Materialien für ihre Ikonendarstellungen benutzt: Holz, Papier, Elfenbein oder Metall. In der Ausstellung gibt es von allem eine Auswahl.
Die Exposition wird durch ein umfangreiches Rahmenprogramm ergänzt, durch Vorträge, Führungen, Lesungen, ein Konzert sowie Kurse, in denen eingeladen wird, an Meditationsabenden die verborgene Kraft der Ikonen zu ergründen. Auch kann der Versuch unternommen werden, selbst Ikonen zu malen.
Bis 5. Juli, Di-So, 10-18 Uhr, Russische Kolonie 2, Eröffnung: 25. März, 17 Uhr
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