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Präsentierten „Oh Boy“. Tom Schilling (l.) und Jan Ole Gerster im Thalia.

© M. Thomas

Kultur: Die verrutschte innere Sicht „Oh Boy“ von Jan Ole Gerster im Filmgespräch

Nico Fischer ist Ende zwanzig und hat vor zwei Jahren sein Jurastudium geschmissen. Seitdem lebt er in den Tag hinein.

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Nico Fischer ist Ende zwanzig und hat vor zwei Jahren sein Jurastudium geschmissen. Seitdem lebt er in den Tag hinein. „Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?“, will in einer Szene von Jan Ole Gersters wunderbarem Schwarz-Weiß-Filmdebüt „Oh Boy“ der Vater wissen, der ihn in Unkenntnis dieser Tatsache bis dato finanziell über Wasser gehalten hat. „Ich habe nachgedacht.“ Über mich. Über alles.“

„Oh Boy“ erzählt einen Tag in Nicos Leben, von einem Morgen bis zum nächsten, durch den der Held von Begegnung zu Begegnung durch die Stadt Berlin treibt. Dabei ist Nico kein aktiv Handelnder, sondern ein Beobachter, der sich nur allzu oft in etwas hineinziehen lässt, was er eigentlich gar nicht will. Wenn etwa der Nachbar an seiner Wohnungstür klingelt und sein Herz ausschüttet. Oder wenn der alte Mann in der Kneipe ausgerechnet ihn zum Zuhören aussucht, um über ein Stück Kindheit zu schwadronieren, das sich bei genaueren Hinhören als das Erleben der Pogromnacht der Nazis entpuppt.

Jan Ole Gerster, der am Donnerstagabend gemeinsam mit Hauptdarsteller Tom Schilling zum Premierengespräch ins Kino „Thalia“ gekommen war, hat viele Momente des Alltags gesammelt und skizziert, um über seinen Helden in einer Lebensphase zu erzählen, in der er auch einmal steckte, so Jan Ole Gerster. Es ist auch ein Film geworden, in dem Berlin stets präsent ist, der in ästhetisch verdichteten Bildern die Stadt einfängt. Der Blick, den der Regisseur in diesem gelungenen Debüt auf seinen Helden wirft, ist ein verfremdender. Mit komischen, aber auch melancholisch und ironisch erzählten Episoden, unterlegter Jazzmusik und einer kongenialen Schwarz-Weiß-Kamera (Philipp Kirsamer) setzt er ihn gekonnt um.

Dennoch ist die Figur des Nico diejenige, die das Wesen der Dinge, die Wahrheit einer Situation am genauesten erfasst: Den schnellen Sex mit der ehemalige Schulkameradin Julika kann er nur ablehnen, weil er begreift, dass sich einmal zerstörte Träume so nicht nachholen lassen. Tom Schilling spielt die Figur lakonisch und genau. Um die Rolle des Nico zu bekommen, schrieb er handschriftlich einen fünfseitigen Brief an seinen Freund Jan Ole Gerster.

Was ihn an der Figur reizte? „Für mich war das Buch viel eher ein Gesellschaftsporträt, als das Porträt einer Hauptfigur. Weil der Nico in den Begegnungen, die er hat, einen besonderen Blick auf die alltäglichen Dinge wirft, der meist so gar nicht da ist, weil man nicht so genau hinschaut.“

Die Dialoge seien zu 98 Prozent bereits im Drehbuch aufgeschrieben gewesen, so Jan Ole Gerster, und nicht durch Improvisation entstanden, obwohl sie so leichtfüßig daherkommen. Die Kamera entspricht während der Gespräche oft der „verrutschten“ inneren Sicht Nicos: Seine Gesprächspartner sind zumeist etwas schräg von unten aufgenommen, dafür fehlt ein wenig das obere Ende ihres Kopfes. Manchmal wird die Kamera auch zu einem weiteren Teilnehmer am Gespräch, schaut den Figuren quasi über die Schulter. „Stell dir einfach vor, du würdest jemandem eins überzeihen, dem du schon lange eins überziehen willst“, versucht der Vater beim Golfspiel, zu dem er Nico genötigt hat, seinen Sohn zu motivieren. Die Bildschärfe wechselt auf das Gesicht des Vaters im Hintergrund und wir wissen, wem Nico gerade eins überziehen möchte. Mit der Entscheidung, in Schwarz-Weiß zu drehen, wollte Gerster nicht nur Distanz zu den eingeflossenen persönlichen Erfahrungen schaffen, sondern auch die Figuren auf eine zeitlosere Ebene heben, die über ein Generationenporträt hinausgeht. Der Erfolg ihrer Produktion „Oh Boy“, der als schönster Berlin-Film des Jahres von der Kritik gefeiert wird, hat die Filmemacher selbst überrascht: „Ich muss das erst mal verarbeiten“, meinte der Regisseur.Gabriele Zellmann

Gabriele Zellmann

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