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Kultur: Die Wandlung abwartend

Grit Poppe las im Frauenzentrum aus neuen Erzählungen

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Grit Poppe las im Frauenzentrum aus neuen Erzählungen Sie wechsele gern die Gattungen und lasse sich nicht festlegen, sagt Grit Poppe, als sie ihre noch unveröffentlichten letzen Texte für den neuen Band „Wandlungen“ am Mittwochabend im Frauenzentrum vorstellt. Nach dem satirischen Wenderoman „Andere Umstände“ (1993), dem Kinderbuch „Alabusch oder das Herz des Vulkans“ (2001) arbeitete sie in den letzten Jahren wieder mehr an Kurzgeschichten. Der erste Text „Der letzte Kuss“ wurde vom Aufbau-Verlag in der Anthologie „Tut“s noch weh. Geschichten zum Gesundwerden“ bereits 2001 veröffentlicht. In einer illustren Runde: Hans Fallada (Der Pechvogel), Natalia Ginzburg (Meine Psychoanalyse), Anton Tschechow (Die Apothekersfrau), Jenny Erpenbeck (Frisch und G“sund), Franz Kafka. Grit Poppe erzählt hier eine Trennungsgeschichte, wie sie sich tausendfach abspielt oder abspielen könnte. Alltäglich und doch ein wenig skurril. „Es befriedigt mich nicht mehr.“ Immer wieder sagt der Liebhaber diesen Satz am Telefon. Mein Liebhaber? Oder vielleicht mehr mein Sexhaber? Oder vielleicht mehr mein Machthaber? – denkt Sie. Viel zu schnell habe er sie vor gerade fünf Wochen bekommen. Viel zu viel Macht habe er in so kurzer Zeit über sie gewonnen. Nein, sagt er noch einmal. Alles habe keinen Zweck mehr. Es befriedigt mich nicht mehr. Nicht einmal Schmerz stellt sich ein. Denkt sie. Nichts. Sie legt den Hörer auf. Wenn der Schmerz nicht zu ihr kommt, muss sie zu ihm gehen. Entscheidet sie schlüssig und fährt 344 Kilometer. Begierig auf Schmerz, bahnt sie sich gewaltsam den Weg in die Wohnung, wo schon alles nach der Neuen riecht. Die Jüngere, die Blondere, die Braunere. Denkt sie. Im Badezimmer schminkt sie sich. Präpariert ihre Lippen für den letzten Kuss. Mit Sekundenkleber. Eine geradezu exemplarische Kurzgeschichte mit bündiger Komposition, Typisierung, offenem Schluss und gelungener Provokation. In der Tradition der amerikanischen Kurzgeschichte. Wie Joyce Carol Oates, die Grit Poppe als wichtigstes Vorbild nennt. Problematischer die zweite Geschichte „Der Zyklop“, die von einem wundersamen Jungen erzählt. Unter seinem Bett bewahrt er einen Karton mit Tierskeletten, Flügeln und Knochen auf. Fetische ohne Macht, wie sich zeigt. Aber im Traum erscheint ihm ein Zyklop mit einem steinernen Auge. Als der Junge am Meer einen Seeigel findet, lernt er ein Mädchen kennen, das mit ihm den Sommer verbringt. Später wird sie seine Frau. Als sie wieder einmal ans Meer fahren, ist die Frau schwanger. In den Umarmungen verliert er den Seeigel. Kurz darauf auch die Frau und das Kind bei einem Unfall. Erst Jahre später ist er wieder am Meer. Der steinäugige Zyklop begegnet ihm hier noch einmal im Traum. In der Textrealität findet er eine Frau: ähnlich und fremd zugleich. Mit einem wundersamen Jungen: Steinäugig. In dieser phantastisch-surrealistischen Geschichte erscheinen Realität und Surrealität so stringent aneinander gekoppelt zu sein, dass sie gänzlich ihren Zauber einbüßt. In die Welt der toten Schmetterlinge entführt die dritte Geschichte „Lepidopte“, in der das Mädchen Vernessa mit ihrem Vater allein lebt. Vernessa sammelt Raupen von Brennnesseln und legt sie in Gläser. Wie ihr Vater, der die Raupen mit Zyankali tötet, um sie in verschiedenen Entpuppungsstadien zu sezieren, zu beobachten und auszustellen. Vernessas Schulterblätter stechen von ihr ab, wie abgebrochene Flügel. Sie ist erst dreizehn Jahre alt. Dennoch kocht sie für ihren Vater die Mahlzeiten selbst. Brennnesselomeletts. Den Traum vom Fliegen träumt sie häufig. Immer wenn der Vater von Schmetterlingen erzählt. Aber noch ist sie eingepuppt wie die Raupen in den Gläsern. An den richtigen Zeitpunkt muss sie denken, als sie über sich die Schritte des Vaters hört. Auch als er stürzt. Bestürzt und etwas ratlos bleiben die ZuhörerInnen in der Schmetterlings-Raupenwelt zurück. Die Wandlung abwartend.

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