Kultur: Draufhalten, wo man wegschauen möchte
Der österreichische Filmregisseur Ulrich Seidl hat im Filmmuseum sein Werk vorgestellt
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„Man kann die Heimat auswechseln, oder keine haben, aber man muss immer, gleichgültig wo, wohnen“. Dieses Zitat von Vilém Flusser könnte gut über dem Film „Import Export“ stehen, der am Samstagabend im Filmmuseum lief. Der 140-minütige Streifen eröffnet eine Werkschau mit Filmen des österreichischen Regisseurs und Produzenten Ulrich Seidl, die bis zum 18. Oktober läuft. Für den Auftakt plus Filmgespräch kam Seidl zusammen mit der Darstellerin Lilien Bartsch („Models“) von Wien her nach Potsdam. Den einen gilt der gebürtige Wiener (1952) als Grenzüberschreiter und unappetitlicher Skandalregisseur, andere neigen ihr Haupt, immerhin hat „Hundstage“ 2001 in Venedig den Großen Preis der Jury gewonnen.
Zwei Sonderheiten zeichnen Seidls Ästhetik aus, er arbeitet in seinen Spielfilmen viel mit dokumentarischem Material, zweitens stellt er den Schauspielern Laiendarsteller zur Seite. Die Krankenschwester Ekateryna Rak etwa, als Olga eine der Protagonistinnen, suchte und fand er in der Ukraine. Sie hatte weder Deutschkenntnisse noch stand sie je vor der Kamera. Überhaupt sagt man Seidl eine gewisse Umtriebigkeit nach, er sucht seine Schauplätze in halb Europa, neben Österreich diesmal auch in Tschechien, der Slowakei und in Rumänien.
Alles beginnt in einer tristen Schneelandschaft der Ukraine. Olga stolpert bei minus 30 Grad an einer Industrieanlage vorbei, um ihr Kind von der Mutter zu holen. Kurz darauf wird sie beide verlassen, sie fährt nach Wien, wo sie Anstellungen als Putzfrau findet, Demütigungen erlebt, sich aber zuletzt in einer geriatrischen Klinik behauptet. Gegenläufig sucht Paul (Paul Hoffmann) an der Seite seines Stiefvaters den Weg gen Osten, man fährt mit einem Kleintransporter Second Hand-Plunder in die Ukraine. Dort verliert sich Pauls Spur auf verschneiter Landstraße.
Beide Storys werden parallel erzählt, der Ausgang bleibt offen. Nach Seidls absichtsvoller Dramaturgie begegnen sich Olga und Paul auch niemals. Beim etwas holprigen Filmgespräch sagte eine Zuschauerin zum Regisseur, es sei angenehm, ihm zuzuhören, aber unangenehm, diesen Film anzuschauen. Gewollt: Ob Drillszenen („schrei a bissel!“) beim Security-Training, ob lange Einstellungen in der Geriatrie oder der Webcam-Sex, Seidl hält drauf, wo man wegschauen möchte. Er filmt ja nichts, was es im Leben nicht gäbe, das Elend in den ukrainischen Hochhäusern, eine völlig heruntergekommene Roma-Siedlung im slowakischen Kocize, latenten Rassismus in Wien: Second hand „reicht“ für den Osten. Olga wird in Wien wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt. Ohne anzuklagen, zeigt „Import Export“ knallhart, wie Menschen im heutigen Europa deklassiert und zur Ware gemacht werden. Auch in der Wiener Geriatrie, wenn man Demente wie Narren verkleidet. Die „Würde des Einzelnen“ im gemeinsamen europäischen Haus scheint hier fraglich.
Ulrich Seidls Realismus hat Kraft, Dimension, auch Humor. Schwer genug, eben nicht wegzuschauen. Immer wieder Dunajewskis gefühlvolles Lied „Serdse“ (Herz), Olga singt es ihrem fernen Kind unter Tränen am Telefon vor. Tod! Tod! stammelt die uralte Frau in ihrem Gitterbett auf der Station immer wieder, die letzten Worte des Films. Irgendwo muss man ja wohnen. Gerold Paul
Heute werden Seidls Kurzfilme „Einsvierzig“, „Der Ball“ und „Brüder, lasst und lustig sein“ im Potsdamer Filmmuseum gezeigt, 18 Uhr.
Gerold Paul
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