Kultur: Ein Apfel vom Baume Lübecks
Im Potsdamer vacat verlag erschienen: Thomas Manns Essay „Lübeck als geistige Lebensform“ mit Farbaufnahmen von Julius Hollos
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Im Potsdamer vacat verlag erschienen: Thomas Manns Essay „Lübeck als geistige Lebensform“ mit Farbaufnahmen von Julius Hollos Es ist ein Nottitel, bekennt Thomas Mann. Er gibt nichts von der Vertraulichkeit wieder, die diese Unterhaltung eigentlich haben sollte. Deshalb müsste er wohl besser ganz schlicht „Meine lieben Mitbürger“ lauten statt „Lübeck als geistige Lebensform“. Denn als Mann von den Lübeckern gebeten wurde, zum 700. Jubiläum der Reichsfreiheit der Stadt zu reden, ging es ihm vor allem um den richtigen Ton, die richtige Einordnung des hanseatischen „Stallgeruchs“ in seiner Literatur. War er wirklich der Nestbeschmutzer, der in den „Buddenbrooks“ manch“ Lübecker vorführte? In seinem Essay „Lübeck als geistige Lebensform“, den er 1926 vortrug, setzte er alles daran, diesen Vorwurf zu relativieren. „... es ist mein Ehrgeiz, nachzuweisen, daß Lübeck als Stadt, als Stadtbild und Stadtcharakter, als Landschaft, Sprache, Architektur durchaus nicht nur in ,Buddenbrooks'', deren unverleugneten Hintergrund es bildet, seine Rolle spielt, sondern daß es von Anfang bis zu Ende in meiner ganzen Schriftstellerei zu finden ist, sie entscheidend bestimmt und beherrscht.“ Anlässlich des 50. Todestages des Erzählers brachte nun Peter Walther vom Brandenburgischen Literaturbüro diesen wortgewaltigen Essay im vacat verlag zugleich als reich bebilderte Hommage an die Stadt Lübeck heraus. Wiederum ein sehr liebevoll gestaltetes Buch des kleinen Potsdamer Verlages, wenngleich das weiße Titel-Rechteck auf dem Cover an einen Aufkleber erinnert – und stört. Die stimmungsvollen Farbaufnahmen von Julius Hollos, die aus der gleichen Zeit wie Manns Essay stammen, vermitteln das Bild der vom Bombenkrieg und Nachkriegsarchitektur noch unversehrten Hansestadt. Mitunter fühlt man sich auch an Russland erinnert: denkt im ersten Moment an die „Wolgatreidler“ von Repin statt an Eis an der Trave, assoziiert ein ukrainisches Dorf statt das norddeutsche Gothmund. Und so wie die Fotos die Gedanken weiter führen, spinnt auch Thomas Mann seinen Lübeckfaden über die Stadtgrenzen hinaus. Bis nach Europa. Ob Schweizer, Holländer oder Franzosen – überall fühlte man sich von den Buddenbrooks angesprochen und kommentierten: „Genau wie bei uns.“ Thomas Mann lag dieser Gedanke Europas am Herzen, das Erlebnis, dass die Völker nur Abwandlungen und Spielarten einer höheren seelischen Einheit darstellten. „Man gibt das Persönlichste und ist überrascht, das Nationale getroffen zu haben.“ Und dieses Persönlichste, das ganz unbewusst seine Texte durchdrang, war nur möglich, weil „der Apfel niemals weit vom Stamme fällt; daß ich als Künstler viel echter, viel mehr ein Apfel vom Baume Lübecks war, als ich geahnt hatte, daß diejenigen, die, beleidigt durch gewisse kritische Schärfen des Buches, einen Abtrünnigen und Verräter, einen Entfremdeten hatten in mir sehen wollen, tatsächlich im Unrecht gewesen und daß es sich nicht nur bei diesem Buch, sondern auch bei allen anderen ... nur um Lübeck als geistige Lebensform handelte.“ Ob seine lieben Mitbürger ihm nun verziehen? Heidi Jäger
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