Kultur: Ein gemütlicher Ort zum Sterben
Angelika Schrobsdorff las zur Eröffnung des Jewish Film Festivals im Filmmuseum
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Angelika Schrobsdorff haderte mit ihrem Auftritt. Schlecht vorbereitet sei sie, grummelte die 78-Jährige vor sich hin. Und wie um alles in der Welt solle sie ein über 500 Seiten dickes Buch für eine Lesung auf eine einzige Seite runterkürzen? Sichtbar verärgert saß die Schriftstellerin auf der Bühne im Filmmuseum und ließ die flache Hand auf den Tisch fallen. Das Mikrofon verstärkte den Knall zum Donner. Wäre Publikum da, es wäre zusammengezuckt. Doch noch war Generalprobe, der Saal deshalb leer. Vor den Türen des Kinos war dagegen zu diesem Zeitpunkt schon der Teufel los. Ein Zettel an der Kasse ließ keinen Zweifel: Ausverkauft. Nach dem Einlass verlagerte sich das Gedränge dann in den Kinosaal. Nicht nur alle Sitze waren schnell belegt, auch am Seitengang standen Besucher Spalier.
Angelika Schrobsdorff ist beliebt. Vorrangig Damen in mittleren und fortgeschrittenen Jahren waren gekommen, um ihrer Lesung beizuwohnen, mit der das Potsdamer Gastspiel des „Jewish Film Festival“ eröffnet wurde. Doch bevor die Schriftstellerin ihre Darbietung gab, wurde Irmgard von zur Mühlens Dokumentation „Ein Leben lang Koffer“ über das bewegte Leben der Angelika Schrobsdorff gezeigt. Der Film zeichnet die Linie über die gut behütete Kindheit in Berlin, von der Schrobsdorff sagt, es sei eine „glückliche Zeit mit großen Ängsten“ gewesen, über die unfreiwillige Entdeckung der jüdischen Herkunft in der Zeit des Nationalsozialismus und die Flucht mit der Mutter nach Bulgarien. Mit diesem Land ist sie bis heute stark verbunden, nie wieder habe sie so viel Herzlichkeit erfahren wie hier. Als allerdings die Rote Armee einmarschierte, wurde ihre Familie zwar nicht mehr als Juden, nun aber als Deutsche bedrängt. Erneut erfuhr Schrobsdorff die Bedeutung der „unglückseligen Mischung, deutsch und jüdisch zu sein“. Nach dem Krieg kam es zur zweiten Begegnung mit Deutschland. Auch den Vater sah sie wieder und wurde nun mit ihrer doppelten Herkunft zwischen einer Mutter auf der Seite der Opfer und einem Vater auf der Seite der Täter konfrontiert. Es folgte die Geburt ihres Sohnes und die Begegnung mit Israel, jenem Land, in das sie dann 1983 vorerst endgültig übersiedelte. Doch ebenso wichtig war eine andere Begegnung: Angelika Schrobsdorff begann zu schreiben: „Mit der Schreibmaschine. Auf dem Bauch. Auf dem Bett“. Wenn sie nicht geschrieben hätte, hätte sie sich wohl umgebracht, erzählt die Schriftstellerin in von zur Mühlens Film, der andeutet, was der gesamte Abend entfaltet: Es gibt nur wenige schriftstellerische Werke, bei denen es so schwierig ist, die Fiktion vom Leben des Verfassers zu trennen, wie bei Schrobsdorff.
Als nach dem Film das Licht im Saal wieder anging, standen noch immer viele, andere hatten inzwischen auf dem Fußboden Platz genommen. Alle zusammen warteten auf die Lesung. Doch Angelika Schrobsdorff polterte, wie bei der Probe bereits einstudiert, erst noch ein wenig. Dann begann sie tatsächlich, aus ihrem bereits in der 18.Auflage veröffentlichten „Du bist nicht so wie andre Mütter“ zu lesen. Als ihre tiefe und klangvolle Stimme die mal traurige, mal vergnügliche Geschichte vortrug, konnte die Schriftstellerin bisweilen nicht anders, als in das oft herzliche Lachen des Publikums einzustimmen. Als sie beschrieb, wie ihre Mutter einst unbedingt gegen den Willen der jüdischen Großeltern einen Weihnachtsbaum wollte, weil ihr die Geschichte vom Christkind besser gefiel als die von der Tempelzerstörung. Auch als sie selbst verkündete, nun die Lesung abzubrechen, obwohl das Buch noch gar nicht angefangen habe, gefiel sie sich erkennbar in der Rolle der grantigen Großmutter.
Überhaupt nicht zum Lachen war ihr allerdings, als sie im Gespräch mit Irmgard von zur Mühlen über ihren Umzug nach Berlin sprach. Schlimm sei der Abschied von Jerusalem gewesen, vielleicht der schwerste Verlust ihres Lebens. Doch noch länger habe sie die israelische Politik, die „Verrohung der Gesellschaft“ einfach nicht ertragen können. Vorerst endgültig hat sie ihren Wohnsitz deshalb nun nach Deutschland verlegt – ausgerechnet in das Land, aus dem sie bereits zwei Mal geflüchtet war. Nach langer Überlegung fiel ihre Entscheidung für Berlin. Weil man da „gemütlich sterben“ könne, sagte die alte Dame, der man die Lebensjahre ebenso wenig anmerkt wie die bewegte Lebensgeschichte.
Moritz Reininghaus
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