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Am Anfang steht der Plot. Wenn der steht, lässt Vera Kissel sich beim Schreiben ganz los.

© Promo

ZUR PERSON: „Ein großes Familiengeheimnis“

Die Potsdamer Autorin Vera Kissel erzählt in „Was die Welle nahm“ den Verlust eines Vaters

Stand:

Frau Kissel, Sie haben mit „Was die Welle nahm“ einen Jugendroman geschrieben, in dem es um den 14-jährigen Lukas geht, dessen Vater beim Tsunami ums Leben gekommen ist. Haben Sie einen Hang zu Katastrophen?

In jedem Fall zum Dramatischen. Mich interessieren existenzielle Konflikte. Und der Verlust eines Elternteils ist gerade für Kinder und Jugendliche extrem verstörend. Sie haben einfach noch weniger Mittel, mit großen Konflikten umzugehen.

Sie haben aber mit dem Tsunami von 2004 ein Ereignis gewählt, das im kollektiven Gedächtnis eine große Rolle spielt, ähnlich wie der 11. September.

Das war eigentlich gar nicht der Aufhänger, um diese Geschichte zu erzählen. Ich habe sie geschrieben, weil ich vor ein paar Jahren mal einen Zeitungsartikel gelesen habe, in Ihrer Zeitung sogar. Aber dieses Buch wird erst im nächsten Jahr herauskommen, auch mit Lukas als Protagonist.

Es gibt zwei Geschichten?

Die beiden Geschichten sind sozusagen siamesische Zwillinge. Das ist jetzt praktisch die Vorgeschichte. Ich fing 2009 an, die Story zu entwickeln, und da war der fünfte Jahrestag der Katastrophe. Dadurch ist das wahrscheinlich in meinen Kopf gekommen.

Das ist also keine persönliche Sache?

Nein, nicht direkt. Ich war empfänglich dafür, weil meinem Vater ein Kind ertrunken ist, als er so 13, 14 Jahre alt war. Das wurde für ihn zu einem Albtraum: Er ist bis ins hohe Alter immer noch auf Strecke getaucht.

War er Schwimmlehrer?

Nein, das war zur Nazizeit gewesen, in der Hiterjugend, der HJ. Er war Anführer einer Gruppe von 10- bis 14-Jährigen, das waren die Jüngsten in der HJ, „Pimpfe“ wurden die genannt. Sie haben einen Ausflug an den Rhein gemacht und der Junge ist an so einem Wellenbrecher in einen Strudel geraten. Und obwohl mein Vater ein guter Schwimmer war, ist es ihm nicht gelungen, ihn rauszuholen. Das hat ihn geprägt.

Und Sie auch?

Ja, er hat meinen beiden Geschwistern und mir früh Schwimmen beigebracht und Tauchen. Aber auch wie man gefesselt im Wasser überleben könnte, dass der Kopf immer oben bleibt, auch wenn man mal untertaucht. Da ist eine große Angst von einer Generation zur nächsten gegeben worden.

Aber der Protagonist Ihres Buches konnte ja gegen den Tod seines Vaters nichts machen.

Nein, der ist gar nicht dabei gewesen. Der Vater war in Thailand, und Lukas und seine Mutter in Berlin. Darum dreht sich ja auch das Familiengeheimnis, das entstanden ist, als die Todesnachricht kam.

Ein Familiengeheimnis?

Sein Vater ist beim Tsunami verschollen und dadurch zu einer Person geworden, über die man nicht mehr gesprochen hat. Lukas war damals vier. Die Geschichte spielt aber jetzt, zehn Jahre später. In den Sommerferien. Lukas wird von Albträumen geplagt. Er wird von einer Welle verfolgt und hat Ertrinkungsträume.

Der Verlust des Vaters fand aber schon viel früher statt. Ein intaktes Familienleben war das nicht.

Genau. Das ist das, was Lukas in den Ferien durch Zufall entdeckt: dieses große Familiengeheimnis. Und die Wahrheit wirft ihn erst mal völlig aus der Bahn. Darum geht es: wie er den Konflikt mit seiner Familie löst, vor allem mit seiner Mutter.

Also: Lukas ist 14 und allein zu Hause.

Das erste Mal. Er hat durchgesetzt, dass er allein zu Hause bleibt, während seine Mutter mit ihrem neuen Freund zwei Wochen in den Urlaub fährt.

Wohin?

An den Bodensee.

Also was Sicheres.

Ja, sie sind nie wieder ans Meer gefahren. Das fällt ihm dann auch auf, Stück für Stück. Eigentlich ist es eine Geschichte darüber, dass man nicht trauern kann, wenn man keine Erinnerungen teilt.

Die Mutter hat den Vater also bewusst aus dem Leben ausgeklammert?

Nachdem sie vom Tod des Vaters erfahren hat, hat sie versucht, ihn zu löschen. Aber das kann man nicht. Und dieses Familiengeheimnis wütet dann.

Und Lukas konnte bis zu seinem 14. Lebensjahr damit leben?

Es war schon eine Belastung, aber er ist auch kein völlig geknickter, kaputter Jugendlicher. Er ist jetzt allein zu Hause, hängt rum, aber seine Hauptaufgabe ist, sich endlich bei Annika zu melden, in die er verknallt ist. Er hat zwar die große Klappe, aber bei Mädchen ist er extrem schüchtern. Und er hat seinen Kumpel Birol, der schon 18 ist und sich einen klapprigen Transporter gekauft hat.

Und dann passiert etwas.

Lukas stößt auf die Wahrheit über seinen Vater: Er findet einen Brief. An seine Mutter. Und dann wird er in die Vergangenheit zurückgerissen. Er erfährt eine Wahrheit, die ihn ins Mark trifft und sein Leben auf den Kopf stellt.

Das scheint ja eine schwierige Situation für die Mutter zu werden. Sie ist ja nicht gerade als Sympathieträger angelegt.

Lukas hat auch eine unglaubliche Wut auf seine Mutter. Die hat dann - wie man so schön sagt - die Arschkarte. Ich versuche immer, die Figuren komplex darzustellen. Aber hätte ich Lukas noch mehr über seine Mutter nachdenken lassen, wäre er mir zu reflektiert geraten, für sein Alter.

Wäre die Geschichte nicht noch brutaler geworden, wenn Lukas nicht 14, sondern 24 gewesen wäre?

Er ist jetzt in einem Alter, in dem er es versteht. Man hätte es ihm vielleicht eher sagen können, aber das ist ja auch nicht leicht, das Schweigen zu brechen.

Das Buch will aber auch kein Ratgeber sein?

Um Gottes willen, nein! Es geht einfach darum, einen tiefen Konflikt in einer Familie zu erzählen, der aber auch eine universelle Erfahrung ist. Es gibt zwar nicht in jeder Familie gravierende Familiengeheimnisse. Aber es gibt immer etwas, was hinterm Berg gehalten wird. Dann staut es sich auf, bis es an einem bestimmten Punkt explodiert.

Das macht es ja auch interessanter.

Natürlich. Literatur soll sich ja auch mit Widersprüchen auseinandersetzen, mit der Komplexität von Menschen. Auch sympathische Menschen können etwas richtig Hässliches haben. Glück langweilt.

Lesen wir denn lieber etwas mit weniger Glück?

Ich glaube, wir lesen gern etwas über Konflikte. Wir wollen um die Hauptfiguren bangen. Und dieser existenzielle Konflikt in meinem Roman spricht ja nicht nur jugendliche Leser an.

Haben Sie sich hingesetzt und gesagt: Jetzt schreibe ich was für Jugendliche?

Ich hätte es nicht anders geschrieben, wenn ich es für Erwachsene geschrieben hätte. Aber es ist jetzt in einem Kinder- und Jugendbuchverlag erschienen.

Sie haben auch Theaterstücke geschrieben, die aufgeführt worden sind. Ist das mit diesem Buch auch geplant?

Es gibt eine Bühnenfassung, die ich geschrieben habe, bevor ich die siamesischen Zwillinge geteilt habe. Jetzt sind daraus zwei Romane entstanden. Der zweite kommt dann in einem Jahr heraus.

Haben Sie die Geschichten am Reißbrett entworfen oder einfach drauflosgeschrieben?

Nein, ich bin schon jemand, der plottet, also plant. Das habe ich beim Schreiben fürs Theater oder bei Drehbüchern gelernt.

Gibt es Momente, wo etwas nicht funktioniert? Wo Sie scheitern.

Ich bin hartnäckig. Ich bin auch eine leidenschaftliche Umschreiberin. Da fühle ich mich sauwohl, das ist meine Droge. Ich versuche aber, am Ende einen Text zu haben, der so wirkt, als ob man es nur so erzählen konnte.

Wird es in Zukunft noch mehr Jugendliteratur von Ihnen geben?

Ja. Es wird aber auch bald einen Band mit Erzählungen und Kurzgeschichten für Erwachsene geben, der hoffentlich zur nächsten Leipziger Buchmesse herauskommt.

Das Gespräch führte Oliver Dietrich

Vera Kissel: „Was die Welle nahm“, Dressler Verlag, 14,99 Euro

Vera Kissel ist 1959 im Odenwald geboren und im Ruhrgebiet aufgewachsen. Sie hat an der Universität Dortmund Journalistik studiert und als Dramatikerin an verschiedenen deutschen Bühnen gearbeitet.

Für ihre Theaterstücke erhielt sie mehrere Preise und Stipendien. Außerdem schreibt sie Gedichte und Drehbücher. „Was die Welle nahm“ ist ihr erstes Jugendbuch, mit dem sie 2012 für den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis nominiert war. Vera Kissel lebt und arbeitet in Potsdam.

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