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Kultur: Ein „Hallig im roten Meer“

Gabriele Leech-Anspach veröffentlichte Buch über Geschichte Steinstückens im vacat Verlag

Gabriele Leech-Anspach veröffentlichte Buch über Geschichte Steinstückens im vacat Verlag Wie es wirklich war, ganz zu Anfang, können heute nur noch drei „Ur-Steinstückener“ bezeugen. Einer davon legt jetzt ein hervorragendes Sachbuch vor, worin das alles, eingebunden in persönliches Erleben, für die Mit- und Nachwelt festgehalten ist, denn nicht nur die Erinnerung ist flüchtig, vielmehr sieht man dem heutigen Vorort von Berlin seine wechselvolle Vergangenheit auch längst nicht mehr an. Vorbei die Zeit, wo dieser Zwerg, zwei Straßen, 180 Einwohner, im Zentrum der Weltgeschichte und des Kalten Krieges stand. Gabriele Leech-Anspach machte sich bereits kurz vor dem Mauerfall die Mühe, seine bewegte Geschichte aufzuschreiben. Aber die Gegenwart erfordert neue Wege, der historischen Wahrheit und der Nachwelt zuliebe. Dieser Tage wurde das im Potsdamer vacat Verlag erschienene Buch „Insel vor der Insel“ unter großem Publikumsandrang in der Galerie „Mutter Fourage“ in Wannsee präsentiert. Eine Verbeugung vorab. Mit dieser gut lesbaren und detailfreudigen Neuerscheinung hat man im wahrsten Sinn „lebendige Geschichte“ in Händen. Sie bezeugt auf exemplarische Weise einen menschlichen Urtrieb, das Ringen und Behaupten von Grund und Boden, Zusammenhalt in schwersten Zeiten, etwa während des Kriegsendes oder bei der vollständigen Isolation durch die frühe DDR. Die groben Daten sind bekannt: Zusammen mit Berg-, Langen- und anderen „Stücken“ gehörte das Gebiet einst zum Dorf Stolpe, aus dem später Wannsee erwuchs. Hier lebten Künstler wie der Kaiserliche Bildhauer Erdmann Encke, später sein Sohn Eberhard, und der Maler Johannes Niemeyer. Gabriele Leech-Anspach verbrachte seit 1928 in diesem Umfeld eine unbeschwerte und beschauliche Kindheit, von der sie in Wort und Bild dankbar berichtet. Zur Schule fuhr sie mit der S-Bahn nach Potsdam. Es war die Realgymnasiale Studienanstalt in der heutigen Dortustraße. Später studierte sie slawische Sprachen. Vielleicht rettete das in den Wirren der russische Besetzung 1945 sogar das Leben, denn sie wurde Dolmetscherin und Vertraute vieler Bedrängten. 1920 kam das Areal zu Wannsee, dieses zwei Jahre später zu Groß-Berlin. „So wurden wir Westberliner“. Aber versorgungstechnisch hing die Exklave mehr an Potsdam, nur ein unbefestigter Weg führte nach Kohlhasenbrück. Während dort in den letzten Kriegstagen „Fürchterliches“ geschah, wurde um den Mini-Ort nicht gekämpft. Aber wie überall hatten auch hier die sieghaften Russen vier Wochen lang „freie Hand“. In bewegenden Geschichten erzählt die Autorin von der Blockade 1948, von der kurzfristigen Eingemeindung 1951 nach Potsdam, welche aber nach US-Protesten rückgängig gemacht wurde: „Die Funktionäre hatten unsere fertigen DDR-Ausweise dabei, aber wir haben sie nicht angenommen“. Im September 1961 besuchte General Clay per Hubschrauber diese von Stacheldraht umzäunte „Hallig im roten Meer“. Ihre „eigene Mauer“ bekamen die Steinstückener erst 1963, neun Jahre später durch Gebietstausch einen Zugang nach Westberlin. Da war es mit der Ruhe vorbei. Nach dem Fall vom Wall, in dessen Geist das Buch merkwürdig endet, zogen die Grundstückspreise stark an. Heute ist das nach einem Flurnamen benannte Gebiet „ein ganz normaler Vorort Berlins“. Deshalb war es wichtig, das inzwischen Unsichtbare, Vergangene, festzuhalten, so die Autorin. Die besondere Geschichte Steinstückens lasse „erkennen, dass sich Mut und Entschlossenheit bewähren“. Gerold Paul Gabriele Leech-Anspach „Insel vor der Insel. Ein kleiner Ort im kalten Krieg. Berlin-Steinstücken“ mit historischen Fotografien, vacat Verlag, 18 Euro.

Gerold Paul

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