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Kultur: Ein irrer Duft

Chansonwerkstatt öffnete das „Westpaket“

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„Zwanzig Jahre Mauerfall“ lassen sich ganz unterschiedlich verarzten. Alles Offiziöse und Diplomatische kann man dabei vergessen, wichtiger ist, was zum Beispiel die „Chansonwerkstatt“ Potsdam/Berlin dazu sagt. Das höchst muntere Ensemble brachte mit seinem aktuellen Programm den ganzen Saal vom „Obelisk“ in dauerhaftes Entzücken, denn zwanzig Jahre Mauerfall waren für die begnadeten „Nachwuchs-Kabarettisten“ zuerst mal mit dem Duft vom längst antiken Westpaket verbunden. Dessen eingedenk nannten sie ihr Premieren- und zugleich Gastspiel-Programm entsprechend kontraproduktiv „Das Ostpaket. Wendekinder packen aus“, und füllten dasselbe mit beliebten, offiziellen, subversiven, selten gehörten sowie nie vergessenen Liedern oder Schlagern aus der DDR, darin „Unsre Heimat“ oder „Heißer Sommer“ genauso Platz fanden wie Udo Lindenbergs externer „Sonderzug nach Pankow".

Aus dem Abstand zur Vergangenheit und leisen Tönen zur Gegenwart ergab sich ein wunderbarer Rhythmus. Was zu staatsnah mit „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“ daherkam, wurde kurzum verfremdet. Das Publikum fand sich hier, aber auch bei David Hasselhoffs „Looking for Freedom“ mit Fabian Bothe in Lederjacke vor Lachen schier nicht wieder. Man hatte es offenbar mit einem Geniestreich zu tun. Das Programm, seine szenische Darstellung, die durchgestalteten Soli, das Singen in Duett, Trio oder auch mit vokalisem Hintergrund, alles war mit äußerster Sorgfalt auf das Thema zugearbeitet. Jeder Titel hatte sein ganz eigenes Gesicht, und dergestalt liefen die Sänger/Kabarettisten/Darsteller und Entertainer ohne jede Ermüdung zur Hochform auf. Minimalismus bei jedem Auftritt war wohl das Geheimnis des Erfolges. In Anlehnung an Nina Hagens Farbfilm-Song persiflierte Christiane Günther bei ihrem ersten Westbesuch an der Nordsee einen Westen „Grau in Grau und später nicht mehr wahr“, ein unglaublich temperamentvoller Vortrag!

Von Schnepfental-West reiste jemand nach Schnepfental-Ost auf Besuch, was Silvia Nitsche fast paradiesvogelhaft zu ihrem Solo-Renner „Erna kommt!“ animierte. Auch der Pianist Jan Lehmann hatte seine Auftritte, mal gut-bürgerlich, mal in Baumwollripp-Unterhemd oder in Dressman-Hose. Puhdys „Geh zu ihr“ stand dem Original in nichts nach. „Da war Gold in deinen Augen“ kam als A Capella-Quartett über die Rampe, als Hymne an einen Kopf Kohl! Wirklich irre. Silvana Ullrich trug mit ihrer bemerkenswerten Mimik „Auf der Wiese haben wir gelegen“, einen sanften Wink an den Staat mit „Nichts ist unendlich, sieh das doch ein“ und vieles andere vor.

Mit Power-Wahnsinn ging es in die Pause: Ensemble und Publikum klatschten in Crescendo den Rhythmus zu „Über sieben Brücken musst du gehen ...“

Es gab auch Nachdenkliches im Ostpaket. So sah man bei „Pioniere voran!“ was geschah, wenn jemand aus der Reihe tanzte, was es bedeutet, „satt zu essen und ein Dach überm Kopf“ zu haben. Das kleine Schild „Mein Vorbild ist mein Vati“ am hinteren Bühnenvorhang ließ einen manchmal frieren. Was soll man noch sagen: Professionelle Auf- und Abgänge, historische und zeitgenössische Kostüme in Fülle, mithin ein bis an die Grenze getriebener Wille, mehr zu bieten als „Geschichte-Unterhaltung-Kabarett“. Gerold Paul

Gerold Paul

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