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Kultur: Ein Kind, das ihr Leben in vollen Zügen genießen wollte

Jacqueline van Maarsen stellte an der Voltaire-Gesamtschule ihre Memoiren „Ich heiße Anne, sagte sie. Anne Frank“ vor

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Jacqueline van Maarsen stellte an der Voltaire-Gesamtschule ihre Memoiren „Ich heiße Anne, sagte sie. Anne Frank“ vor „Ich versuche nicht die Nazizeit zu verstehen, sondern die Nachkriegsgeneration“, sagt Jacqueline van Maarsen dem jungen Publikum. Über 150 Schüler, Eltern und Lehrer drängten sich am Donnerstagabend in die Aula der Voltaire-Gesamtschule, um etwas über das Leben von van Maarsen und ihrer Jugendfreundin Anne Frank zu erfahren. „Jaqueline van Maarsen habe ich auf dem Jüdischen Lyzeum kennen gelernt, sie ist jetzt meine beste Freundin“, schrieb Anne Frank in Amsterdam am 14. Juni mit 13 Jahren in ihr Tagebuch. Zu lesen bekam die heute 75jährige Niederländerin diese persönlichen Worte erst nach Kriegsende, als Annes Vater, Otto Frank, vor ihrer Tür stand und unter Tränen von dem Verrat des Verstecks und vom Tod Anne Franks im Konzentrationslager berichtete. „Ich las damals das Buch am Stück durch und habe es dann über Jahre nicht mehr angefasst“, sagt Maarsen, die sich über Jahrzehnte bemühte, „die dunkle Zeit“ zu vergessen. Doch umso berühmter Anne wurde, sie gar zu einer Legende und zu einem Symbol von Millionen von ermordeten Juden wurde, desto stärker wurde Maarsen von den damaligen Erlebnissen eingeholt. Lange Zeit habe sie sich zurückgehalten, sich als Annes Freundin erkennen zu geben, um sich nicht wichtig zu machen. Doch nachdem Gerüchte über eine mögliche Fälschung des Tagebuchs auftraten, wollte sie der Geschichte von Anne Authentizität verleihen. „Für mich ist Anne kein Symbol, sondern ein Kind, das ihr Leben in vollen Zügen genießen wollte und doch so anders war als ich.“ Schon die Bekanntschaft zwischen Anne und Jacqueline, im Tagebuch „Jopie“ genannt, spricht für sich. Anne Frank kam ans jüdische Lyzeum, radelte Jacqueline nach dem Unterricht hinterher, hielt sie auf, fragte, wo sie wohnte und stellte fest, das beide in die selbe Richtung mussten – also ab sofort gemeinsam zur Schule fahren konnten. Noch am selben Tag stellte Anne die neue Schulfreundin zu Hause vor, drei Tage später sagte Anne, dass Jacqueline ihre neue beste Freundin sei. Diese Szene „Ich heiße Anne, sagte sie. Anne Frank“, wählte die Autorin als Titel ihrer Memoiren, die von Anne, aber vor allem von Maarsens Familie und ihrem persönlichen Schicksal handelt. Sie selbst entkam Verfolgung und Tod, weil sich ihre Mutter, eine Nichtjüdin, die einen jüdischen Mann geheiratet hatte, sich und ihre beiden Töchter mit einer List aus der Jüdischen Gemeinde wieder austragen ließ und somit von den Deportationslisten verschwand. „Den ersten Teil des Krieges war ich jüdisch, danach nicht jüdisch.“ An der Schule, die sie nach diesem Wechsel besuchen durfte, war plötzlich keine Rede mehr von den Juden und deren Schicksal. Sie habe sich befreit gefühlt, antwortet Maarsen auf die Frage, wie sie sich fühlte, als sie den Davidstern von der Kleidung entfernen durfte. Nach dem Krieg wurden in den Niederlanden alle Namen derer veröffentlicht, die in KZ getötet wurden. „Die Deutschen waren in der Buchführung sehr gründlich. Ich fand darin die Namen aller meiner Tanten, Onkel, deren Kinder und Kindeskinder, und ich fand den Namen von Anne Frank.“ Nach Kriegsende hatte sie anfänglich noch auf die Rückkehr von Anne gehofft, ebenso wie ihr Vater auf seine Verwandtschaft – beide hofften vergebens. „Sind sie danach wieder dem jüdischen Glauben beigetreten?“, möchte ein Schüler wissen. Der steigende Antisemitismus in den Niederlanden nach Kriegsende, habe das unmöglich gemacht, erklärte Maarsen. „Aber später habe ich einen jüdischen Mann geheiratet und so wieder die Seiten gewechselt.“ „Das bin ich“, ergänzte Ruud Maarsen, der sich für die Fragerunde an die Seite seiner Frau setzte. Auch sein Schicksal wurde von den Schülern interessiert verfolgt. Ruuds Mutter versteckte den damals 12-Jährigen bei unbekannten Menschen und tauchte selbst bei einer anderen Familie unter, zu der er heute noch engsten Kontakt hält. „Haben sie heute noch Vorbehalte gegen Deutsche?“, ist die letzte Frage. „Damals dachte ich, dass alle Deutschen Nazis sind, ich wollte auch kein Deutsch sprechen. Heute weiß ich, dass es überall schlechte Menschen gibt. Als Kinder sind Sie unschuldig, doch Sie sollten darüber nachdenken, wie Sie Rassismus verhindern können.“, so Annes einstige Freundin zu den Potsdamer Schülern. Michael Kaczmarek

Michael Kaczmarek

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