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Wenn die Kinder sprechen. Arbeiten für „Wenn ich erst zur Schule geh“ (1961), den ersten Dokumentarfilm für die Langzeitdokumentation „Kinder von Golzow“ des Regisseurs Winfried Junge.

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Kultur: Ein Lebenswerk

Die Regisseure Barbara und Winfried Junge sprachen über die „Kinder von Golzow“

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Vergnügt und ausgelassen, wild durcheinander redend und sich mitunter balgend kommen die Kinder in den Klassenraum. Dass sie dabei gefilmt werden, sind sie schon gewohnt, es scheint ihnen nichts mehr auszumachen. Ohne Scheu lassen sie ein Mikrophon herumgehen. Schon schlägt jemand eine Schneeballschlacht vor, klagt eine über das immer Gleiche im Unterricht oder schwärmt ein anderer vom Biologieunterricht, weil man da auch lernt, „wie die Karnickel entstehen“. Im Musikunterricht singt die Klasse Hans Eislers Kinderhymne „Anmut sparet nicht noch Mühe“ und sieht nicht gerade glücklich dabei aus. Und später, als die Kinder zu Hause Schularbeiten erledigen und sich anschließend im Fernsehen Bilder vom Vietnamkrieg ansehen, sind ihre Gesichter sogar verstört. In der Schule zählen sie dann auf, was der Mensch alles kann: Arbeiten könne er, Bodenschätze abbauen, schwimmen, aber auch Raketen und Bomben bauen. „Elf Jahre alt“ heißt dieser halbstündige Schwarz-Weiß-Film aus dem Jahr 1966, der am Mittwochabend im sehr gut besuchten Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte gezeigt wurde.

Es ist der dritte von insgesamt 20 Filmen der von 1961 bis 2007 entstandenen Langzeitdokumentation „Die Kinder von Golzow“ und zugleich wohl der ungewöhnlichste. Denn im Gegensatz zu allen anderen Filmen dieser international bekannten Chronik wird in „Elf Jahre alt“ auf jeglichen Sprecherkommentar verzichtet, sodass allein die Kinder zu Wort kommen und recht unbefangen ihre Sicht auf die Welt äußern. Doch blieb dies eine Ausnahme, eine Freiheit, die sich der Regisseur Winfried Junge hier nahm, obwohl er sie keinesfalls hatte. Schnell habe man seitens der Funktionäre der DDR-Kulturpolitik härtere Bandagen angelegt bekommen, wurde sofort darauf bestanden, die Studien fortan wieder im tendenziell schönrednerischen Ton zu kommentieren, erzählt Junge, der zusammen mit seiner Frau an diesem Abend zu Gast ist. Ursprünglich hatte das Filmprojekt ja als staatlicher Auftrag begonnen. Als einer der ersten Absolventen der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Babelsberg hatte es Winfried Junge, angeregt durch seinen Mentor, den Dokumentarfilmregisseur Karl Gass, 1961 in den kleinen Ort Golzow im Oderbruch verschlagen, um dort Kinder zu porträtieren, die einmal als Erbauer des Sozialismus in die Geschichte eingehen würden. Joachim Laabs, der spätere Leiter des Schulbuch-Verlags „Volk und Wissen“, hatte Junge diesen Schauplatz empfohlen. In Golzow hatte man eine neue zentrale Schule für die Gemeinden der Gegend gebaut, die es den Schülern ermöglichte, nun auch auf dem Land zehn Jahre zu lernen. Als Junge im September 1961 zusammen mit seinem Kameramann Hans-Eberhard Leupold, der kurz zuvor den Bau der Berliner Mauer gefilmt hatte, in Golzow eintraf, saßen die baldigen Erstklässler bereits als Gruppe im Sandkasten gegenüber der neuen Schule. Mitten unter ihnen auch Marlies Teike, die künftige Lehrerin, die die Kleinen schon mit Namen kennt und nach ihren Berufswünschen fragt. Es ist dies die Eingangsszene des ersten Golzow-Films „Wenn ich erst zur Schule geh“, der an diesem Abend ebenfalls gezeigt wird, zumal in Anwesenheit Marlies Teikes, die mit einem Augenzwinkern verrät, dass diese Sequenz natürlich nicht ganz so zufällig entstanden ist, wie sie auf den Betrachter wirkt.

Diese Aufnahmen sind der Anfang einer Geschichte, in deren Verlauf die Kamera 46 Jahre lang 18 Menschen aus Golzow auf ihren Lebenswegen begleitete. Was anfangs als zeitlich noch überschaubares Projekt gedacht war, wurde bald zur jahrzehntelangen Auftragsarbeit ausgeweitet. In der sollte zwar stets betont werden, wie die Menschen den Sozialismus gestalten, doch blieb der Einblick in den Alltag der DDR verblüffend unverfälscht und es wurden immer auch die Fehlentwicklungen dieses Gesellschaftssystems mitdokumentiert. Der Mensch diente eben nicht, wie es gefordert wurde, als Beispiel für ein erfolgreich umgesetztes Gesellschaftsmodell. Deshalb brach das Projekt mit der Wende auch nicht zusammen, sondern wurde nun eher noch um eine Komponente bereichert. So ergab sich die Möglichkeit, anhand der insgesamt acht ab 1994 produzierten Langfilme zu zeigen, wie sich das Leben und Denken einzelner Golzower nach der deutschen Wiedervereinigung verändert hat. „Leben im Zeitraffer“ lautete fortan das neue, überaus erfolgreiche Filmkonzept des Regisseurehepaars Junge.

Die Filmchronik „Die Kinder von Golzow“ gilt als älteste Langzeitbeobachtung und Meilenstein der Filmgeschichte und nicht zuletzt auch als eine Geschichte der Freundschaft, wie Barbara Junge erzählt. Die Dokumentarfilmregisseurin, die ab 1983 die Montage aller Filme ihres Ehemannes betreute und ab 1992 gemeinsam mit ihm Regie führte, hebt hervor, dass es über einen so langen Zeitraum praktisch kaum möglich, aber auch nicht die Absicht gewesen sei, eine professionelle Distanz zu den porträtierten Golzowern aufzubauen. Nur zu verständlich, denn ohne diese Vertrautheit als wichtiges Arbeitskriterium ist die Lebensfülle und Unmittelbarkeit, die alle Golzow-Filme auszeichnet und diese suggestive Kraft, die jeder einzelne von ihnen entfaltet, schlichtweg nicht denkbar. Welch emotionales Erlebnis dieses Stück Filmgeschichte bergen kann, beweisen auch die vielen Zusprüche, Lobes- und Dankesworte aus dem Publikum. Dass Barbara und Winfried Junge ihr Lebenswerk 2007 endgültig abgeschlossen haben, wollen einige immer noch nicht so recht glauben.

Daniel Flügel

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