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Kultur: Ein Leiden am Heimatland

„Briefe über Deutschland“ im Varieté Walhalla

„Briefe über Deutschland“ im Varieté Walhalla Auf des Deutschen Haupt wächst nur selten ein gutes Haar. Ach, was klagte Hölderlin seiner Bellarmin über die plumpe Knechtseele seiner Landsleute. An diesen verrohten Gesellen konnte der Dichter nur verzweifeln. Im fernen Italien schien nicht nur die Sonne häufiger, hier wuchs auch ein Mensch, der allen als Ideal erscheinen sollte. Doch beim Deutschen, da waren längst Hopfen und Malz verloren. Es war ein nachdenklicher Montagabend im Varieté Walhalla, nur ein paar Meter vom rauschenden Einheitsfest entfernt. Hier hatten Sabine Scholze und Moritz Führmann vom Hans Otto Theater zur Lesung geladen. „Briefe über Deutschland“ – des Schriftstellers eigenwilliger Blick auf sein Heimatland. Eine Zeitreise von 1796 bis heute als Gegenentwurf zum jubelhaften „Wir sind Wir“-Getümmel. Knapp 30 Gästen kamen. „Xenien“ – Gastgeschenke, nannten Goethe und Schiller ihre 200 Spottverse, die im Januar 1796 entstanden. Und mit einigen dieser bitterbösen Zeilen begannen Scholze und Führmann ihr Programm. Es folgte Hölderlins Klage aus seinem Briefroman „Hyperion“. Dann erklärte Heinrich von Kleist seiner Schwester Ulrike die Deutschen am preußischen Hofe, die sich nur in zwei Sorten teilen lassen. Die, die sich formen lassen und die, die daran zerbrechen. Es folgte die Wut des Georg Büchner über die Deutschen in einem Brief an seine Familie. Geschrieben 1833, als in Frankfurt erste revolutionäre Versuche kläglich scheiterten, doch schon auf das Jahr 1848 verwiesen. Moritz Führmann las hier mit mächtigem Organ. Da köchelte, dann wieder tobte die Wut, die Büchner in diese Zeilen steckte. Mit feiner Ironie las Sabine Scholze aus einem Brief Fontanes an seine Ehefrau, er zeigte die Sorgen des Schriftstellers über das Ansehen der Deutschen im Ausland, das wahrlich kein prächtiges war. Scholze und Führmann gaben den Schriftstellern Stimme, die mit ihrer Heimat, ihren Landsleuten ringen, an ihnen leiden, oft genug auch verzweifeln. Kästner, Zweig und Tucholsky, die Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre schon ahnten, dass Hitler und seine Horden ihr Land in den Abgrund treiben würden. Die Pianistin Rita Herzog dazwischen mit Präludien von Schostakowitsch, die die Stimmung der Texte, die Zerrissenheit der Autoren aufgriffen und spürbar machten. Musikalische Zwischenstücke, die nie, wie so oft, die Lesung unterbrachen, sondern immer die Texte weitertrugen, das Kommende vorbereiteten. Nach über einer Stunde, nachdem auch Christa Wolf und Günter Grass zu Worte gekommen waren, blieb Ernüchterung. Keine Jubelworte oder Lobhudeleien, fast jeder zitierte Autor stand oder steht seinen Landsleuten skeptisch gegenüber. Mahnende, verwunderte, verzweifelte und oft genug auch wütende Worte. Selten war das Gelesene persönliche Abrechnung. Fast immer ging es um Einmischung, weil die Heimat und die Menschen, bei aller Kritik, immer Herzenssache bleiben. Denn wie Günter Grass sagte: Wahre Vaterlandsliebe zeigt sich noch immer im kritischen Blick. Dirk Becker

Dirk Becker

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