Die Vernissage der Sven-Marquardt-Schau: Ein Publikum wie aus dem Bilderbuch
Man stelle sich vor, in einem großen Raum mit Hunderten Leuten zu sein, von denen man die wenigsten kennt, und sich dabei ständig beobachtet zu fühlen. Egal wohin man geht, wenn man zur Seite sieht, wird man von Augen fixiert.
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Man stelle sich vor, in einem großen Raum mit Hunderten Leuten zu sein, von denen man die wenigsten kennt, und sich dabei ständig beobachtet zu fühlen. Egal wohin man geht, wenn man zur Seite sieht, wird man von Augen fixiert.
Donnerstagabend, Potsdam-Berghain, Schiffbauergasse. Im Kunstraum vom Waschhaus ist gerade die Werkschau von Sven Marquardt eröffnet worden, es ist die erste überhaupt, 30 Jahre des Schaffens des Berliner Fotografen werden hier dokumentiert – keine Sache, die man nebenbei auf die Beine stellt. Über ein Jahr hat es gedauert, bis aus der Idee die konkrete Realisierung steht, jede Menge Arbeit, die auf dem ersten Blick gar nicht zu sehen ist. Vor allem Überzeugungsarbeit wurde geleistet – dafür hat Potsdam jetzt ganz exklusiv das fotografische Werk des Exzentrikers Marquardt. Einen Monat lang kann man eine Auswahl der Arbeiten sehen, die bis ins Jahr 1985 zurückgehen.
Marquardt ist weniger für seine Fotos bekannt als für seine Tätigkeit als Torwächter in Berlins hipstem Techno-Club Berghain, und genau dieselbe Klientel scheint sich trotz Herbstwetters auch hierher verirrt zu haben. Wie die Bilder, so auch das Publikum: Schwarz-Weiß ist die vorherrschende Couleur, Leder, Ketten, Tattoos – doch gegen Marquardt selbst, der hinter seiner Brille eine verkniffene Verschwiegenheit ausstrahlt, wirken dennoch alle blasser als gewöhnlich. Von der Vernissage-Stimmung mit Sektchen und Lachskanapees ist man an diesem Abend weit entfernt – statt Sekt gibt es Bier, statt Lachs einen Bratwurststand auf dem Innenhof.
Doch diese Blässe ist nur scheinbar, genau wie in den Fotos, die beinahe ausnahmslos Menschen porträtieren. Kaum ein Gegenstand findet sich auf den Bildern, höchstens als offenbar ungewollte Dekoration. Marquardt knipst weder, noch verlässt er sich auf hochauflösende Technik: Man sieht grobkörnige Pixel auf den großformatigen Fotos, ein eher verwaschener Effekt – das Bild selbst wirkt, die Perspektive, keine Schummelei mit der Kamera. Schwarz-Weiß ist bunt, Männer in lasziven Posen mit akkuraten Scheiteln, Frauen in einer Inszenierung als gefallene Engel, dennoch keine Spur von Pornografie – kein Futter für Voyeurismus. Die Erotik wabert unterschwellig durch die Bilder, die Menschen werden in einem sakralen Duktus überhöht dargestellt. Geht man die Wendeltreppe nach oben, blickt man in ein dreidimensionales Triptychon, das von zwei Dobermännern flankiert wird, die einzigen nichtmenschlichen Gestalten, die unscharf jegliche hundeeigene Niedlichkeit verloren haben.
Unterdessen gräbt sich der Berghain-Sound unweigerlich in die Gehörgänge, DJ Kobosil, ein aufstrebendes Talent des Clubs, lässt einen verspielten Horrorfilm-Soundtrack durch die hohen Räume hallen, der sich im Echo verliert. Was soll Marquardt zu diesem Abend noch sagen? Eine Rede halten? Nee, ein Freund großer Worte ist der Künstler, der als Sohn eines Autobahnbauers und einer medizinisch-technischen Angestellten in Pankow geboren wurde, dann doch nicht, er freut sich unaufgeregt über die Bilder, die die Organisatoren „auf abenteuerliche Weise irgendwo in Europa eingekauft“ haben – und taucht wieder ab. Gar nicht so leicht, selbst ein Kunstwerk zu sein. Oliver Dietrich
Die Werkschau im Kunstraum ist bis zum 19. Oktober immer mittwochs bis sonntags von 13 bis18 Uhr im Kunstraum, Schiffbauergasse, zu sehen. Am Mittwoch, dem 7. Oktober, wird Sven Marquardt aus seiner Autobiografie „Die Nacht ist Leben“ lesen
Oliver Dietrich
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