Die Zeiten scheinen vorbei zu sein, als Georg Friedrich Händels 1741 entstandenes Oratorium „Der Messias“ von ganzen Heerscharen aufgeführt wurde. So hatte der monströse Aufführungsstil 1859 in London seinen Höhepunkt erreicht: 2765 Choristen und 480 Musiker ehrten den 100. Geburtstag des Komponisten. Ud Joffe kam am ersten Adventssonntag in der voll besetzten Erlöserkirche mit knapp über 30 Sängerinnen und Sänger aus, das Orchester mit sogar noch weniger Mitwirkenden. Somit wurde dem Ganzen eine außerordentliche Transparenz ermöglicht. Händels berühmtestes Oratorium wurde zum Abschluss des diesjährigen Festivals „Vocalise“ vom Neuen Kammerchor Potsdam und dem Neuen Kammerorchester Potsdam zur Aufführung gebracht, in englischer Originalsprache.
„Typisch englisch“ könnte man sagen. Denn so tritt im Werk die bejahende Ausprägung des christlichen Glaubens zutage. Es herrscht darin aber nicht die protestantische, demutsvoll verinnerlichte Frömmigkeit, wie wir sie etwa aus den Passionen, Messen und Kantaten Johann Sebastian Bachs kennen. Der „Messias“ erzählt nicht von dem leidenden Menschen Jesus Christus und von den Sünden der Zuhörer – die Kreuzigung, zentrales Thema der christlichen Religion, wird nicht einmal konkret benannt. Das Thema ist der siegreiche Herrscher, der der Welt die Erlösung bringt. Und so ist auch die Musik: hymnisch, melodienselig, innig und expressiv. So, wie man die Allüre barocker Oratorienkunst liebt, vor allem die in England beheimatet ist.
Joffe hat jedoch alles Aufgeblasene, das dem „Messias“ in der Vergangenheit so gern verordnet wurde, verbannt. Eine große Nachdenklichkeit und Ruhe hat seine Interpretation erreicht, die aber auch von einer stillen und sogar überschwänglichen Freude getragen wird. Die Hoffnung und die Gewissheit sind bei dem Dirigenten nie auftrumpfend. Auch der zum Allerwelts-Hit gewordene Halleluja-Chor wurde nicht unvermittelt in den Kirchenraum geschmettert, sondern zielt inspirierend unaufhaltsam auf den Lobgesang vom Triumph Gottes zu.
Bereits in der Ouvertüre ließ der Dirigent einen Puls finden, der bis zum Ende Eindringlichkeit und Durchsichtigkeit zeigte. Die Tempi wirkten alles andere als gehetzt, manchmal sogar erstaunlich gemäßigt. Sie erwiesen sich aber als genau kalkulierte Grundlage für die dramatische Entwicklung. Jede einzelne Arie und jeder Chorsatz wurden in ihren Eigenheiten ernst genommen. Und so hatte man das Gefühl einer organischen Gesamtheit. „Der Messias“ hatte jedenfalls eine intensive Spannung, ohne dass die Eigenheiten der einzelnen Nummern vernachlässigt wurden. Der Neue Kammerchor war ausgewogen besetzt, ging sehr engagiert und sicher zu Werke, sang die intim klingenden Sätze genauso klangschön wie die mit großer Strahlkraft jubelnden Chöre. Nur der vor überwältigender Freude singende Chortenor war nahe dran, sich aus dem Gesamtklang zu verabschieden. Und das Kammerorchester wusste mit schlanken, doch warmen Tönen die farbige Musik Händels zu unterstreichen. Die Solopartien hat Ud Joffe an Sängerinnen und Sänger übergeben, die stilistisch genau, differenziert, eindringlich und klangschön die Händelschen Arien interpretierten: Dana Marbach, Sopran, Regina Jakobi, Alt, der kurzfristig für Andreas Weller eingesprungene Tenor Holger Marks sowie der Bariton Sebastian Noack. Diese wunderbare „Messias“-Aufführung, die ein würdiger Abschluss der „Vocalise“ war, honorierte das Publikum dankbar und mit lang anhaltendem Beifall. Klaus Büstrin
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