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Wenn eine Erzählung zum Leben erwacht. Anna Schudt und Moritz Führmann mit Thomas Manns Erzählung „Der Erwählte“ und die Harfenistin Eva Curth im Garten von Jochim Sedemund.

©  Manfred Thomas

Kultur: Eine Darbietung voll Liebe

Thomas Manns „Der Erwählte“ im Garten von Jochim Sedemund vorgelesen

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Die flehentlichen Blicke, die Moritz Führmann gen düsteren Himmel schickt, sie helfen. Mehr noch, fast pünktlich zum Lesungsbeginn im Garten von Jochim Sedemund am Heiligen See reißt die Wolkendecke plötzlich auf und statt von Regenschauern werden die Gäste nun von einem zwar recht windigen, doch zunehmend sonnigen Samstagnachmittag überrascht. Ein Wunder, das den gleichfalls wundersamen Geschehnissen in der Thomas-Mann-Erzählung „Der Erwählte“ ebenbürtig scheint und der erstklassigen Besetzung, die sie mit so viel Verve und so hoher Kunstfertigkeit darbietet, überaus gerecht wird.

Wohl dem, der solch einen prachtvollen sattgrünen und mit Rosen bewachsenen Garten mit Seeblick sein Eigen nennen kann. Zustimmendes Nicken allenthalben, als die Urania-Mitarbeiterin und Organisatorin Renate Bormann dem Hausherrn Jochim Sedemund auch in dessen Abwesenheit wärmstens dankt, dass er ihn zum wiederholten Mal für die Lesereihe „Im Garten vorgelesen“ öffentlich zugänglich gemacht hat. Ein herrlicher Ort.

Unter einer noch zart bewachsenen kleinen Weinlaube steht das Schauspielerpaar Anna Schudt und Moritz Führmann abwechselnd vorlesend hinter einem hohen schwarzen Podest, während unweit davon Eva Curth an einer Keltischen Harfe ihren Vortrag mal begleitet, mal die kleinen Atempausen füllt. Denn es ist ein durchaus brisanter Stoff, den Thomas Mann im „Erwählten“ aufgreift, in dem er das mittelhochdeutsche Versepos „Gregorius“ von Hartmann von Aue in Prosa nacherzählt und dabei köstlich komisch verfremdet. Mit einer meisterlichen Sprachgestaltung und durchweg ironisch-heiteren Fabulierkunst erzählt Mann die Geschichte eines Sünders, der einer inzestuösen Beziehung entspringt, später selber seine ihm unbekannte Mutter heiratet und schwängert, sich dafür eine schwere Buße auferlegt und nach 17 Jahren schließlich zum Papst erwählt wird.

Wirklich zum Leben erwecken diese Erzählung aber erst die Stimmen von Anna Schudt und Moritz Führmann, der dieses Spätwerk Manns eigens für die Lesung querschnittartig bearbeitet hat. Nicht nur, dass die beiden Rezitatoren in den Dialogpartien brillieren, ob etwa als naives Geschwisterpaar Wiligis und Sybilla, als streitende Ritter oder auch als zwei schwungvoll diskutierende römische Gesandte. Ja, man hat beinahe das Gefühl, dass jeder einzelne Charakter inmitten dieses reichhaltigen Figurenensembles, und sei sein Auftritt auch noch so kurz, eine ganz eigene stimmliche Qualität besitzt, so unerschöpflich scheint das Repertoire von Schudt und Führmann. Doch auch die markante Erzählstimme selbst präsentiert sich als reizvolles Wechselspiel der beiden Akteure, so dass das Geschehen mal klar und bisweilen streng, dann wieder sanft oder mit spöttischem Unterton beschrieben wird.

Man kann ganz sicher von einer sehr trefflichen Wahl sprechen, wenn man das Künstlerpaar an diesem Nachmittag miteinander agieren sieht; Anna Schudt, die langjähriges Ensemblemitglied des Münchener Residenztheaters ist und bei mehreren Audioproduktionen mitgewirkt hat und Moritz Führmann, der hier bereits vor zwei Jahren an gleicher Stelle gezeigt hat, dass er einen Mann-Text lieber beschwört, als ihn nur fehlerfrei vorzulesen. Es ist eine Freude zu sehen, wie tief er in den Text eintaucht, wie er ihn mimisch und gestenreich belebt. Eine Darbietung voller Liebe! Dazu das stete Rauschen des Windes und der nachhallende Zauber, den die am Magdeburger Konservatorium dozierende Harfenistin Eva Curth mit ihren Stücken etwa von Jean-Jacques Rousseau, Jean-Henri Naderman oder auch Sylvia Reiss zu weben versteht und schließlich das leise vergnügte Gekicher der knapp 200 Gäste angesichts des „schönsten Kauderwelsches, welches es je in der deutschen Literatur gegeben hat“, wie Marcel Reich-Ranicki sich einmal wohlig zu Thomas Manns „Erwählten“ geäußert hat.

Manchmal fährt jäh eine Windbö in die Textseiten und die Frisuren des Publikums, über dessen Häuptern sich plötzlich lautstark die Krähen anfangen zu zanken, gerade als in „Der Erwählte“ ein Abt mit spitzer Zunge zwei dumpfbackigen Fischersleuten die leeren Netze verübelt. Und als sei da jemand ob der Blasphemie erzürnt, zieht sich der Himmel kurz wieder zu, als von einem Sünder die Rede ist, der seine Buße auf einem nackten Felsen in Gestalt eines Murmeltiers verbringt, bevor er das höchste Kirchenamt bekleidet. Doch dann, kurz vor der Papstkrönung, erstrahlt wieder alles im Sonnenlicht und läuten von fern tatsächlich die Kirchenglocken, so als griffen sie dem Geist der Erzählung ein wenig voraus. Bis hin zum lang anhaltenden Applaus und der feierlichen Stimmung, in der die Gäste noch angeregt plaudernd beisammen stehen, ist dieses fast zweistündige Fest also höchst erdnah und doch wundersam gesegnet.

Daniel Flügel

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