Kultur: Eine entstaubte Zopf-Zeit
Uraufführung von „Rapunzel oder Wen die Liebe trifft“ im HOT-Kinder- und Jugendtheater
Stand:
„Die Liebe kommt nicht in jedes Haus“, singen beschwingt Friedrich und Friederike. Die beiden haben es gut, sie sind nicht allein, wurden gleich zu zweit geboren. Aber wenn die munteren Zwillinge in ihrer Familienchronik zurückblättern, entdecken sie manch düsteres Kapitel, das in seiner Einsamkeit geradezu erschüttern lässt. „Doch Mond und Sonne sind zwei Seiten, die ein Leben lang begleiten, und ohne Schatten sieht man nicht das Licht. Alles ist im Gleichgewicht.“
Mit diesem gereimten Gleichnis sind wir mitten drin in der Familiensaga vom „Rapunzel“, die gestern im Hans Otto Theater von allem Staub befreit, aber dennoch märchenhaft auf die Bühne gelangte. Die Autorin dieser modernen Fassung, Katharina Schlender, schaute dem Mädchen tief in die Seele und verlieh ihr trotz messerscharfer Analyse sehr einfühlsam kindlich weiche und zugleich rebellierend pubertäre Züge, die Jenny Weichert trefflich auszufüllen wusste.
„Rapunzel oder Wen die Liebe trifft“, zäumt die Geschichte von hinten auf. Die Zwillinge ziehen dabei kräftig an den Spielfäden, können den Lauf der Welt aber nicht verändern, auch wenn das Herz vor Kummer überläuft.
Und das beginnt schon bei Grete und Peter, ihren Großeltern. Grete ist voller Griesgram, alles ist ihr zu langweilig, auch das Gesicht ihres Mannes. Bis ihr ein Licht aufgeht: „Ich brauche ein Kind für mich.“ Peter zieht hoffnungsfroh seine Jacke aus und verschwindet mit Grete im Zimmer. Die Zuschauerkinder hören es in dieser herrlich unterhaltsamen Szene juchzen und lachen, bis kurz darauf Grete mit dickem Bauch wieder auftaucht. „Ist das Märchen nicht schon ab sechs?“, fragt eine Elfjährige etwas entrüstet ihre Nachbarin.
Wie auch immer, die Schwangerschaft nimmt ihren Lauf, und Grete ist zickiger denn je. Jetzt will sie gar die Rapunzeln aus dem Nachbargarten der Frau Gotel, und mit der ist wahrlich nicht gut Kirschen essen. Doch der rührselig-besorgte Gatte erklimmt des Nachts die fremde Mauer, klaut, was die Gattin begehrt. Bis er erwischt wird, und der hexischen Frau Gotel als Preis für die Rapunzeln verspricht, ihr dafür das Baby zu geben, wenn es auf die Welt kommt.
Hier gibt es einen scharfen Schnitt. Wir erfahren nicht mehr, was aus dem ungleichen Elternpaar geworden ist, nichts über seine Trauer und was Grete überhaupt so verdrießlich werden ließ. Das hätte wohl zu weit geführt in der ansonsten sehr genauen psychoanalytischen Interpretation. Alles dreht sich jetzt um Frau Gotel und ihre „Tochter“, die fröhlich miteinander schäkern. Aber Frau Gotel lebt die Übermutter, nicht mal Freunde dürfen ins Haus. „Aus Küken wachsen keine Hühner, wenn man aufpasst,“ so ihre Hoffnung. Das immer selbstbestimmter werdende Rapunzel soll auf keinen Fall ausfliegen.
Der weitere Verlauf ist allen Märchenlesern bekannt: Ab geht es mit der Tochter in den sicheren Turm, denn wer nicht hören will, muss fühlen. Und endlich kommt auch der Satz: „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter.“ Das erklimmt eines Tages Prinz Thomas, ebenfalls ein Zwilling, doch anders als sein Bruder ganz ohne herrschaftliche Ambitionen. Er mag nicht kämpfen, er mag nur lieben und erobert das Herz der einsamen Rapunzel. Die will dem Geliebten aber nicht auf dem Fuße in die Freiheit folgen, schließlich hat die Mutter ältere Anrechte. Falsch. Die Rache folgt sogleich. Frau Gotel stößt Prinz Thomas vom Turm und damit ins Erblinden. Die ungehörige Tochter muss ins Niemandsland.
Und weiter dreht sich die immer wieder in eine andere Stimmung getauchte Bühne: Ein rauer Wind fegt die Blätter hinweg. Drei Gestalten ziehen ihre Kreise: das schwangere Rapunzel, die arg gealterte Frau Gotel, und der zum König erhobene Prinz Marcus, der endlich nicht mehr der Zweite sein muss. Sie treten aus dem Kreis heraus und erkennen geläutert, dass jeder einen Menschen braucht. Am Ende sind sich alle gut und singen: „Wenn niemand ohne Liebe lebt, wird es allen wohl ergehn.“ Nicht nur die Zwillinge freut“s: die glücklichen Kinder von Rapunzel und dem wieder sehend gewordenen Prinz Thomas, die nun wissend ihre Familienchronik schließen. Ein Happyend, wie es sich jeder wünscht, doch kommt es hier etwas sehr belehrend daher.
Ansonsten lässt es sich trefflich schwelgen in dem Sprachwitz und der Poesie dieses neuzeitlichen Märchens, das Philippe Besson mit vielen Spielideen auszureizen wusste und kindgerecht präsentierte. Gern lässt man sich auch als Erwachsener gefangen nehmen von dieser berührenden, aber nie rührseligen Inszenierung, die kurzweilig daher kommt und die pointierten Dialoge wohl zu setzen weiß. Dazu tragen zuvorderst auch die Schauspieler bei: neben Jenny Weichert als Rapunzel Anja Dreischmeier und Andreas Dziuk als aufgewecktes, sympathisches Zwillingspaar, Katja Amberger als ambivalent angelegte Frau Gotel oder die so verschiedenen Prinzen, gespielt von Kay Dietrich und Matthias Hörnke. Sie alle bekommen klare Konturen, sind nicht nur in Schwarz-Weiß gezeichnet. Der Zauber der Kostüme und Bühne (Henrike Engel und Gabriella Ausonio) schürt ebenfalls Fantasie und Spannung und hält die Kinder in Atem und bei Laune. Sie kommentieren munter das Geschehen und finden sich bestimmt ein Stück weit wieder. „Ohne Schatten sieht man nicht das Licht“: So heißt die klar versandte Botschaft der Inszenierung. Und die stimmt zu allen Zopf-Zeiten.
Nächste Vorstellungen: heute sowie vom 20. bis 23. 11., jeweils 10 Uhr, in der Reithalle A
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