
© HL Böhme
Von Lena Schneider: Eine Leerstelle
Theater-Premiere I: Der neue HOT-Intendant Tobias Wellemeyer inszenierte Ibsens „Wildente“
Stand:
Ein ganzes Bündel Neuheiten gab Anlass, diese „Wildente“ mit Spannung zu erwarten: eine neue Spielzeit, ein neuer Intendant, ein neues Ensemble. Und auch das Stück ist eines der großen, Henrik Ibsen formulierte hier Ende des 19. Jahrhunderts seine Fragen so, als würde er sie an das 21. Jahrhundert stellen: Wie überleben in einer Welt, in der der einzige Glaube das Vertrauen an sich selbst ist? Darf dieses wackelige Gebilde auch auf (Selbst-)Lügen gebaut sein, wenn es sonst nicht steht? Oder muss die absolute Ehrlichkeit sein, auch wenn sie den totalen Kollaps bedeutet? Ein Stück darüber, wie man die Seele wieder fliegen lassen kann, so hatte Tobias Wellemeyer, der Regie führende Intendant, es selbst formuliert. Warum er gerade die „Wildente“ für seinen Auftakt in Potsdam auserkoren hatte, erklärte das zwar nicht. Aber vielleicht würde seine Inszenierung ja für sich sprechen.
Trotz kraftvoller, auch berührender Momente muss es wohl heißen: Sie tut es nicht. Welches Zeichen Wellemeyer mit seiner „Wildente“ setzen will, wird auch nach Ende der dreistündigen Aufführung nicht wirklich klar. Freilich, „Die Wildente“ ist ein schönes Ensemblestück, in dem ein Teil des neuen Ensembles bestens zum Zuge kommt. Eindrücklich vor allem René Schwittay als der Fotograf Hjalmar Ekdal, ein vor großer Gesellschaft Schüchterner, dessen Launen daheim aber Frau und Kind regieren. So wankt er zwischen gitarrenrockigem Überschwang, wenn er sich zum Frontmann der mit Frau und Tochter improvisierten Hausband aufschwingt, und hilfloser Verzweiflung angesichts der finanziellen Not, aus der er seiner Familie nicht zu helfen vermag. Mit Frau Gina (von geradezu beängstigend kraftvoller, rauer Weiblichkeit: Meike Finck) und Tochter Hedwig (ein burschenhaftes, scheues Wesen versteckt in großer Kastenbrille und blauer Wollmütze, vom Publikum bejubelt: Juliane Götz) hat er sich eine Welt aufgebaut, die zwar rau im Umgang ist, aber funktioniert. Man knurrt und brüllt sich an, dann streichelt und liebt man sich.
Darin, wie Wellemeyer diese Familie zeichnet, ahnt man, was seine „Wildente“ hätte beschreiben können: den Weg einer heutigen Familie irgendwo unterhalb der Mittelschicht in die Katastrophe, den Tod der Tochter. Ganz zu Anfang liegt das Mädchen zusammengekrümmt, ein zitterndes Häuflein Elend, in der Bühnenmitte; am Ende wird sie wieder dort liegen, diesmal regungslos. Die soziale Konstellation ist auch ohne die verdrängte, schicksalhaft vertrackte Vorgeschichte, die wie Hedwigs Wildente auf dem Dachboden im Verborgenen sitzt und im Stückverlauf ans Licht geholt wird, bereits eine tragische: eine Familie, die von den Erfordernissen des Alltags überfordert ist und das auf den Schultern der Tochter austrägt. Die Hinweise auf die soziale Herkunft sind klar, geradezu überdeutlich, man lebt „von der Hand in den Mund“: Würstchen aus dem Glas, massenhaft Bier, Joghurt vom Finger.
Dass dann nicht diese, eine aktuelle Geschichte, sondern eine trotz moderner Übersetzung, nackter Haut und Video-Verstärkung seltsam aus der Zeit gefallene erzählt wird, liegt an der Figur des Gregers Werle. Als dieser Gregers (Wolfgang Vogeler), Hjalmars Jugendfreund, in die Familie platzt, geht es für sie bergab. Während Hjalmar sich irgendwie mit dem Leben arrangiert hat, taumelt Greger, der Sohn des reichen aber korrupten Bergwerkbesitzers Werle, plan- und inhaltslos durchs Leben. Hjalmar hat mit der Verantwortung für seine Familie und seinen alten Vater (ein wunderbar kauziger Eigenbrötler: Spielzeitgast Peter Pagel) etwas, von dem Gregers nur träumen kann: eine „Lebensaufgabe“. Er weiß, wozu er ist. Als Gregers erfährt, dass Hjalmars Frau die frühere Geliebte seines verachteten Vaters ist, konstruiert auch er sich eine „Lebensaufgabe“: Er will aufräumen. Beim Vater (ein mächtig mafiös angelegter Werle: Roland Kuchenbuch), von dem er sich lossagt – und beim ahnungslosen Hjalmar, den er über die Vergangenheit seiner Frau aufklärt.
Ibsens Gregers ist Zerstörer, versteht sich aber als Heilsbringer. Als Karikatur eines solchen ist er bei Wellemeyer inszeniert. Eine pillenschluckende Figur mit einem von jenseitiger Erleuchtung strahlenden Lächeln, mit Armen, die ausholend in andere Sphären greifen, mit Sätzen, die vor gutmenschelnder Zärtlichkeit nur so triefen: „Ihr lieben Menschen!“ Mit seinen großen Gesten und staunend-naiven Ausrufen steckt dieser Gregers dort, wo Wellemeyer, der sagt, als Regisseur gehe es ihm um den Blick in den Spiegel, vermutlich nicht hin will – im 19. Jahrhundert. An der Glaubwürdigkeit dieser Figur, mit der uns Ibsen in eine moralische Zwickmühle locken will, hängt die Überzeugungskraft des Stückes. Wo Gregers wie hier einfach als penetranter Gutmensch, als wenig ernstzunehmender Heilsprediger abgetan werden kann, da fehlen der „Wildente“ Kraft und Mittelpunkt.
Der dunkle, bis auf ein Canapé leere Bühnenraum (Iris Kraft), von dem die Darsteller nur nach hinten entkommen können, hilft dabei nicht. Auch hier: weder Mitte noch Ruhepol. Was zur Folge hat, dass die Schauspieler stehen, hocken, oder aber – häufiger – laufen und rennen und die Requisiten von der Bierflasche bis zum Stuhl selbst heranschleppen müssen. Das neue Ensemble tut sein Bestes, um diese Bühne zu füllen, das engagierte Getrappel seiner Schritte auf dem Holzboden hallt noch lange nach. Das Zentrum dieses Abends bleibt dennoch, wie der Bühnenraum, eine Leerstelle.
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