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Kultur: Eine spirituelle Einheit

Synagogale Musik mit Azi Schwartz bei Vocalise

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Nachdem die Kerzen entzündet werden, beginnt der Kantor verhaltend und tragend das Gebet „El Male Rachmim“ – Gott voller Erbarmen – zu singen. Die Sänger stimmen ein, es entsteht ein ergreifender Wechselgesang: ein Gebet zur Grablegung, auch für die im Holocaust ermordeten Juden. Eine tiefe und nachdenkliche Stille begleitete den Gesang am Abend des Gedenkens zum 75. Jahrestag der Pogromnacht vom 9. November. Azi Schwartz, Kantor und Musikdirektor der Park-Avenue-Synagoge in New York, sowie der RIAS-Kammerchor sangen am Samstag unter Leitung von Ud Joffe im Nikolaisaal synagogale Gesänge des 19. und 20. Jahrhunderts, die größtenteils von Raymond Goldstein, dem Jerusalemer Dirigenten und Komponisten, arrangiert wurden.

Das Konzert, das anlässlich des Festivals „Vocalise“ veranstaltet wurde, machte eindrucksvoll deutlich, dass diese Musik, die zum jüdischen Leben und zu unserer Kultur gehört, eine große spirituelle Kraft besitzt. Der jüdische Gottesdienst war traditionell geprägt vom Wechselgesang des Kantors, also des Sängers, und der Gemeinde. Im 19. Jahrhundert brachten Reformen erstmals Männer- und später auch gemischte Chöre in die Synagogen Deutschlands und Mitteleuropas. Bis in die 1930er-Jahre erlebte die Chormusik eine große Blüte. Louis Lewandowski, Kantor an der Neuen Synagoge Berlin, reformierte den Synagogalgesang. Mit seinen Kompositionen prägte er eine Musiktradition, die vom Nationalsozialismus schmerzlich unterbrochen wurde.

Von Lewandowski war am Samstag eines der Gebete, das am Versöhnungstag Yom Kippur gesungen wird, zu hören. Die in hebräischer Sprache und zumeist rezitativ vorgetragenen Gesänge umfassen Bibelzitate, Vertonungen von Psalmen und Gebeten. Azi Schwartz, der RIAS-Kammerchor und Ud Joffe nahmen die Zuhörer mit auf eine Gebetsreise, bei der Texte und Musik eine spirituelle Einheit bilden. So hörte man das „Schma Jisrael“ des Kiewer Kantors Leib Glantz, das als Grundbekenntnis des jüdischen Glaubens bezeichnet wird, und Gläubige mehrmals am Tag wiederholen: „Höre Israel, der Ewige unser Gott, der Ewige ist Einer.“ Von den zahlreichen Sabbatgebeten wählte man das „Mimkomcha“, komponiert von dem in Lodz geborenen Zavel Zilberts: „Von deinem Thron, unser König, erscheine uns und herrsche über uns, denn wir erwarten dich.“ Auch „Yehi Raton“ (Es sei Dein Wille) von David Kussevitsky gehört zu den eindrucksvollen Sabbatgesängen.

Azi Schwartz stand im Mittelpunkt des Konzerts, als Kantor hatte er den musikalischen Hauptpart zu tragen. Die synagogalen Gesänge, die den Geist der Spätromantik atmen, in denen aber auch osteuropäische Harmonik und Rhythmik aufgehoben sind, wusste der Kantor mit großer Leidenschaft und Ausdruckskraft zu singen. Mit einem hellen und tragfähigen Tenor. Nicht nur die Stimme lässt er wirken, sondern auch die Texte. Man wird von ihm in die Anbetung, Klage und in die Freude hineingenommen. Der RIAS-Kammerchor, der zu den weltbesten Ensembles seiner Art gehört, war ein wunderbarer Partner des Kantors. Er sang mit ausgesuchter Homogenität, gestalterischer Differenz, dynamischer Kontrolle und feiner Deklamation. Ud Joffe, der sechs von sieben Konzerte der „Vocalise“ dirigierte, führte auch hier die Sängerinnen und Sänger souverän und mit großer Spannkraft durch den Abend. Klaus Büstrin

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