Kultur: Eingetopfte Geschichten
Ausstellung und Buch über „Vergnügte Blicke vom schönsten Lust-Altan – Potsdamer Balkonkultur“
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Es lässt sich herrlich leben auf „Balkonien“. Ohne krummen Rücken bringt man dieses kleine Eden zum Erblühen. Nur einen Schritt aus der Tür und schon wärmen Sonnenstrahlen Körper und Seele. Zudem lässt es sich in diesem geschützten Refugium bis in die Nacht gemütlich klönen, wie es uns Andreas Dresens Film „Sommer vorm Balkon“ so wunderbar vor Augen führte. Was liegt also näher, als diesem geschätzten Rückzugsort auch in Wort und Bild hochleben zu lassen. Susann Hellemann und Lothar Binger taten dies gleich zweigleisig: Sie zeigen bis zum 29. Oktober im Museumshaus zum Güldenen Arm ihre „Vergnügten Blicke vom schönsten Lust-Altan“ und liefern zum Nachblättern einen reich bebilderten, aber auch visuell überfrachteten Katalog (erschienen im Bäßler Verlag) dazu.
In der Ausstellung bleibt man als erstses an den acht eingetopften Balkongeschichten hängen. Darin erzählen Potsdamer Bürger von ihren Oasen, die – wie bei Dorothea Scholz-Janicke – mitunter den Blick nur bis zum gegenüberliegenden Häuserblock frei gaben. Dennoch war sie glücklich, dass sie nach einer Eingabe an Erich Honecker überhaupt eine 2-Raum-Wohnung mit Balkon für 67, 50 Mark erhielt. In einem Neubausilo Am Stern nutzte sie ihren „Austritt“ zum Lesen, Träumen, Briefeschreiben. Und wenn gegrillt wurde, hatten alle Mitbewohner etwas davon – nämlich den Geruch in der Nase. Jörg Näthe, der Hüter der Freunschaftsinsel, kann gleich über drei Balkone in seinem Leben berichten. Beim ersten zitterten die Eltern, dass er als kleiner Junge herunter fallen könnte, auf dem zweiten stand die Wiege für den eigenen Sohn und auf dem dritten kann er nun ganz entspannt auf Erlen schauen und viele Ringeltauben fliegen sehen.
An den Wänden der Ausstellung ziehen sich Fotos von Balkons aller Couleur wie ein Fries entlang. Darüber ist die bis auf Friedrich II. zurückführende Potsdamer Balkongeschichte nachzulesen. Damals war an eine Begrünung oder Nutzung allerdings noch nicht zu denken. Die Balkone dienten lediglich als Fassadenschmuck. Später wurde er zum Austritt, um ins Weite zu schauen. „Als ein mit Pflanzen geschmückter Ort und als Lebensraum kam der Balkon erst mit dem Biedermeier nach 1820 zur Geltung. Karl Friedrich Schinkel leistete dazu einen wesentlichen Beitrag, indem er die Natur ans Haus holte und mit seinen flachen offenen Vasen zur Balkonbepflanzung einlud“, schreiben die Autoren.
In den Villen der Potsdamer Vorstädte war eine Loggia, Balkon oder Altan bald nahezu ein Muss. Um 1900 empfahl das Reformprogramm der Wohnungsbauvereine ganz gesundheitsbeflissen die Balkone auch für breite Schichten der Bevölkerung. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten viele dieser luftigen Anbauten wegen Baufälligkeit abgerissen werden. Als ab den 60er Jahren Neubaugebiete aus dem Boden schossen, gehörten Balkone zum Standard. Da 80 Prozent aller Häuser die gleiche Fassade hatten, sahen natürlich auch die Loggien wie Meterware aus. Daran konnten auch üppige Hängegeranien oder Tomaten im Blumentopf nicht viel ändern.
Ältere Balkone spiegeln hingegen die Capri-Sehnsucht, lassen italienische Impulse erkennen. Vor allem die ausgestellten historischen Fotos aus Privatbesitz atmen auf unterhaltsame Weise Zeitgeschichte. Da gibt es den älteren Herrn unter der Palme: mit Zwirbelbart, Schlips und Kragen beim Feierabendschoppen (1908), eine ältere Dame mit Katze, Enkel und aufgehängten Weihnachtshasenbraten (1928), zwei Mädchen mit bravem Haarkranz beim Pochbrettspielen (1910) oder einen zum „Langen Kerl“ herausgeputzten Jungen um 1925.
„,Balkonien“ ist kein Land, sondern ein kleines Refugium der landlosen Leute, deren Fantasie es überlassen bleibt, in die Ferne zu schweifen“, ist zu lesen. Das Buch geht mit auf diese Reisen: mit einer überbordenden Fotosammlung und informativen, zumeist recht sachlich geschriebenen Texten. Heidi Jäger
Die Ausstellung ist bis 29. Oktober täglich von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Eintritt frei.
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