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Kultur: Elternsprechtag

Hitzige Debatte im Einstein Forum zur Bedeutung der 68er Revolution

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Hitzige Debatte im Einstein Forum zur Bedeutung der 68er Revolution Mythos 68er: Studentenunruhen, Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, antiautoritäre Erziehung, sexuelle Revolution, ja, und natürlich die Beatles, die Stones, Hendrix und jede Menge Drogen. Waren die Errungenschaften von „1968", wie der Kasseler Soziologe Heinz Bude beschrieb, wirklich für viele so bedeutend, dass 1968 mit Recht als 2. Gründungsdatum der Bundesrepublik angesehen werden kann? Jedenfalls sind die Revoluzzer von 68 nun arriviert: kein Bundeskabinett zuvor, so Bude, wäre so von 68ern geprägt wie das aktuelle. Die 2001 geführte Diskussion über die erstaunliche Karriere des ehemaligen Spontis Joschka zum Außenminister Fischer zeige, so Bude, auch einen ungeheuren Konsolidierungbedarf: „Die Gesellschaft will das Thema eigentlich zu den Akten legen", meint der Soziologe. Denn wer damals „Unter den Talaren, der Muff von 1000 Jahren“ skandierte, gehört dreißig Jahre später selbst zum „Establishment" und ist heute oftmals selbst Lehrer oder Professor. Die Kinder jedoch, in Person der 1971 geborenen literarischen Debutantin Sophie Dannenberg, entließen am Donnerstag im Einstein Forum nicht, wie im Veranstaltungstitel hoffnungsvoll formuliert, ihre Eltern aus der Verantwortung für die 68er Revolution. Denn die Eltern, die so zahlreich zu der Diskussion zwischen der Autorin des anklagenden Romans „Das bleiche Herz der Revolution" und dem Kultursoziologen Bude gekommen waren, ließen sich nicht einfach entlassen, sie wehrten sich vehement gegen die ihrer Meinung nach klischeebehafteten und pauschalisierenden literarischen Generalabrechnung. Was dazu führt, dass eine Zuhörerin, Lehrerin von Beruf, der sich trotzig-stolz verteidigenden Autorin vorwarf, „die Konstruktion eines geschlossenen dämonisierenden Mythos" zu betreiben. „Nein", widersprach die junge Autorin etwas naseweis, „ich dekonstruiere einen Mythos und versuche, die Wahrheit auszusprechen." Die studierte Philosophin Dannenberg ging gegen diese geballte Kritik an ihrem Buch in die Offensive: „Sie machen sich selbst wie damals zum Maßstab, das ist die typisch hypertrophe Haltung der 68er, in der man sofort wütend wurde, wenn der andere eine andere Meinung besaß." Unter den Zuhörern herrschte Geschlossenheit, dass abgesehen von den extremen Übertreibungen und Gewaltexzessen der Zeit, den „Busenanschlag" auf den Frankfurter Professor Adorno oder den Terror der RAF, viel Positives erreicht wurde. Die Joints, der Alkohol und die Hippimode der Zeit wurde von Dannenberg als bloßes „Lifestyle-Phänomen" eingeordnet. Ein Herr in feinem Nadelstreifen, Krawatte und goldgefasster Brille erwiderte schmunzelnd: „Das hat aber auch Spaß gemacht, das war alles gar nicht so verzweifelt." Dass die Differenzen bis zuletzt nicht beigelegt werden konnten, lag sicher auch daran, dass hier zwei nicht miteinander zu vereinbarende Kategorien aufeinander trafen. Dannenberg bewegt sich mit ihrem Roman auf einer literarischen Ebene. Kritik kann nur mit literaturwissenschaftlichen Mitteln gelingen, nicht aber mit den Werkzeugen des Soziologen. Eine Schriftstellerin ist eben noch lange keine Expertin in zeitgeschichtlichen Fragen. Ein Vorwurf aus dem Auditorium scheint zutreffend zu sein: statt der „typisch deutschen Liebe zum Generationenverhängnis" nachzugehen, hätte sich Dannenberg besser auf eine „autonome Selbstdiskussion“ konzentrieren sollen. Vielleicht ging es den Kindern der Revolution Dank ihrer 68er Eltern auch einfach immer nur zu gut, um nicht Schuld und Verantwortung bei anderen, sondern in sich zu suchen. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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