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Kultur: Er ist so frei

Versteckspiel mit Buch: Alexander Finkenwirth las im Nachtboulevard aus Rafael Horzons Schrift „Das weiße Buch“

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Gibt es diesen Rafael Horzon nun, oder gibt es ihn nicht? Ist er wirklich ein Lebenskünstler für alle Fälle und dann auch noch Begründer des berühmten Möbelhauses seines Namens, einer Partnertrennungsagentur namens „Separitas“, der berühmten Galerie Berlintokyo, mit der er die gesamte Kunstszene der Hauptstadt an der Nase herumgeführt haben will, zudem auch noch Schöpfer des dortigen Apfelkuchengroßhandels? Das Internet ist voll von seinen mehr oder weniger gelungenen Kreationen, nicht nur dort, wo er eine führende Möbelfirma aus Nordeuropa mit einem schlichten Einheitsregal beinahe vom internationalen Markt verdrängte. Ein bisschen viel für einen, das merkt doch jeder.

Doch damit immer noch nicht genug, als Bestsellerautor taucht dieser Hunderttausendsassa in den Feuilletons der intellektuellsten Zeitungen Deutschlands auf: Angeblich schreibe er „Literatur der Spitzenklasse“, was Horzon nun seinerseits bestreitet. „Das weiße Buch“, 2010 bei Suhrkamp erschienen, sei lediglich Sachliteratur, eine Biografie in Ich-Form bestenfalls. Ist er nun also, oder ist er nicht, schreibt er, oder tut das eine gewisse Helene Hegemann mit und für seinen Namen, wie seine besten Kritiker munkeln?

Es sieht ganz so aus, als ob hier ein ganz großer Lebenskünstler nicht nur die deutsche Literatur- und Kunstszene aufmischen würde, sondern die „echte Wirklichkeit“ gleich noch dazu.

Kurz und gut: Wer je diesem Horzon begegnet, kann Sein und Schein sehr bald nicht mehr auseinanderhalten. Und wenn sein Opus Magnus ausgerechnet dann auch noch mit „Ich bin frei“ endet, dann ist genau dies gemeint.

Was ist nun, was gilt nicht? Darum geht es nicht nur in der aktuellen Ausstellung „Realität und Fiktion“ am letzten Ende von Potsdam, in der Villa Schöningen, sondern auch im jüngsten Nachtboulevard, der am Sonnabend, ganz traditionell, in der Reithalle, Schiffbauergasse, stattfand. Klar, da gehört so etwas ja auch hin, denn was nicht ist, und trotzdem ist, oder ganz anders, zählt ja zuerst zum Metier von Theater, Film oder Literatur. Horzons Sein und Nichtsein beginnt ja schon bei seiner Biografie. 1970 geboren, soll oder will er Latein, Komparatistik und Atomphysik studiert haben, bevor er, nach geglücktem Exmatrikel in Berlin, das wurde, was er ist, oder eben nicht: ein so unvollkommener Springinsfeld mit deutlich unternehmerischer Ader, wovon „Das weiße Buch“ auf über zweihundert Seiten so locker wie keck zu berichten weiß.

Natürlich ist an diesem Hasadeur das Wichtigste nicht der besagte Text, sondern seine Haltung als Tat, der Versuch, die ohnehin verdrehte Wirklichkeit noch mal zu verleiern, bis nach dem Motto „Nichts ist so, wie es scheint, doch alles Scheinende ist auch ein Sein“ ein paradoxes Wirrwarr entsteht. Gift für den liebgeronnenen Geist des ewig braven Bürgers. Von solch kostbar-köstlich-hochgefährlichen Gedanken und Haltungen, von dieser Rapuse, diesem intellektuellen Ballawatsch des mehr oder weniger fiktiven Autors hätte man beim Nachtboulevard gern mehr erfahren, als es der weißbeanzugte Vorleser Alexander Finkenwirth vom Hans Otto Theater zu geben verstand.

Natürlich stellte Finkenwirth sich in der Rolle Horzons jedem der acht Besucher persönlich vor, las mit wuselig-absichtsvollem Gestus die vielleicht zentrale Passage im Buch, wonach heute allein die Benennung darüber entscheide, ob man sich in einer Galerie oder in einem Möbelladen befinde, wie im Lebenskapitel „Berlintokyo“ erzählt. Auch zeigte er per Polylux abstruse Stationen von Horzons Vita, allein die Textauswahl wollte ein schlüssiges Bild nicht ergeben. Zu vieles fehlte, auch gab es Rösselsprünge in Finkenwirths Dramaturgie. Aber dies kann man ihm nicht verübeln, erst recht nicht dem münchhausenen Horzon, der erst zum Finale hin dieses „Ich bin frei“ gefunden hatte. Aus dem kann noch ein neuer Eulenspiegel werden! Gerold Paul

Gerold Paul

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