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Kultur: Erinnerungen

Friedrich Christian Delius liest bei Wist

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Hin und wieder hat er sie erlebt, „diese Glücksstunden bei der Lektüre “, diese Begeisterung, als einer der ersten Leser eines noch unentdeckten Textes zu spüren, dass da etwas Neues und Großes vor einem liegt. Berlin im Frühjahr 1983, gerade ist Friedrich Christian Delius aus Rumänien zurückgekehrt und sofort überwältigt von den „Niederungen“, einem mitgebrachten Prosawerk, welches dann ein Jahr später, erstmals hierzulande und unzensiert im Rotbuch Verlag erscheint. Es ist das Debüt einer noch Unbekannten namens Herta Müller.

Solche Geschichten sind es, die den Erinnerungsband „Als die Bücher noch geholfen haben“ (Rowohlt Berlin Verlag, 18,95 Euro) des Schriftstellers Friedrich Christian Delius zu einem ebenso persönlichen wie zeitgeschichtlichen Dokument machen, dessen Lektüre auch dank der eleganten Sprache ein Genuss ist. Mit seinen biografischen Skizzen schlägt der Büchner-Preisträger 2011, der zu den produktivsten deutschsprachigen Gegenwartsautoren zählt und am heutigen Mittwoch sein Buch in Potsdam vorstellt, einen weiten Bogen, welcher von den 60er Jahren bis zur Wendezeit reicht.

Delius ist 21 Jahre alt, als er den Mitgliedern des Literatenzirkels Gruppe 47 schüchtern seine Lyrik vorliest und fortan dazugehört. Er reist mit auf eine Tagung nach Princeton, wird Zeuge der legendären kuriosen Selbstinszenierung des jungen Peter Handke und gerät beim Anblick der schönen Susan Sontag ins verliebte Schwärmen. Ausführlich porträtiert er Klaus Wagenbach, erzählt und kommentiert er die Geschichte von dessen Verlag, wo er 1965 seine ersten Gedichte veröffentlicht und bald auch als Lektor arbeitet. Immer hat Delius den deutschen Zeitgeist kritisch beobachtet und auch später oft aktuell-politische Ereignisse in seinen Romanen verarbeitet, zugleich aber als ein Literaturbesessener allzeit die Kunst gegen die Politik verteidigt.

Als der Wagenbach Verlag Schriften der RAF veröffentlicht, kommt es 1973 zum Zerwürfnis mit seinem Verleger, woraufhin Delius noch im selben Jahr mit einigen Freunden den Berliner Rotbuch Verlag gründet. Wieder fungiert er hier als Lektor und begibt sich bald regelmäßig jenseits der Mauer, auf literarische Entdeckungsreise nach Ost-Berlin. Seinen „Lach- und Lehrmeistern“ begegnet er dort und lernt sie schätzen, diese unbequemen, „negativen DDR-Bürger“. Karl Mickel, Wolf Biermann oder Thomas Brasch, von dem er einen unvergessenen Abschiedskuss auf den Kopf gedrückt bekommt. Günter Kunert bewundert er. Für ihn schmuggelt er, unter den Augen der Stasi, Autoreifen ins Land, und nach seinen häufigen Besuchen bei Heiner Müller, dem „Orakel von Pankow“, sorgt er auf ähnlich abenteuerliche Weise dafür, dass dessen Manuskripte in den Rotbuch Verlag gelangen. Fernab von Schwelgerei findet Delius stets einen angemessen herzlichen Ton für diese anekdotisch angereicherten und bisweilen mit Privatfotos unterlegten Einzelporträts. Daniel Flügel

Lesung am heutigen Mittwoch um 20 Uhr im Literaturladen Wist in der Dortustraße 17. Der Eintritt kostet 5 Euro

Daniel Flügel

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