Kultur: Erinnerungen in Farbe
„Richtige Geschichten aus einem falschen Leben“ des Potsdamer Journalisten Matthias Krauß
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„Richtige Geschichten aus einem falschen Leben“ des Potsdamer Journalisten Matthias Krauß Pünktlich zum 55. Jahrestag der Gründung der DDR erscheint ein weiteres Buch mit Erinnerungen an jene Zeit, als die Welt noch schwarzweiß war: die Fotos, das Fernsehen, die Zeitungen ebenso wie die Argumentation ihrer Kommentatoren. Der Potsdamer Journalist Matthias Krauß nun zieht den Grauschleier beiseite und malt provokant und selbstbewusst ein ganz und gar farbiges Bild jenes „Wunderstaates“, in dem er zur Schule ging, dienstags die Christenlehre, mittwochs den Pioniernachmittag besuchte, sich als FDJ-ler dann doch für die eine Seite entschied, Offizier der NVA wurde, an der Karl-Marx-Universität Leipzig Journalistik studierte und schließlich als Jugendredakteur beim damaligen SED-Bezirksorgan „Märkische Volksstimme" die ersten Jahre im Beruf und die letzten seines „Vaterlandes“ durchlebte. Peter-Michael Diestel, letzter Innenminister der DDR, hat das Buch vom „Wunderstaat" gelesen und am 7. Oktober, dem einstigen Nationalfeiertag, im stilsicher gewählten Plattenbau-Ambiente des Studentenclubs Pup á la Pub der Öffentlichkeit vorgestellt. Humor, meint er, sei eine Voraussetzung für intelligente Menschen, ihre eigene Vergangenheit beurteilen zu können. Und so wundert es nicht, dass auch Matthias Krauß Mittel der Satire wählt, um im Stile Till Eulenspiegels davon zu erzählen, „Wie ich den FDJ-Bezirkssekretär zu Fall brachte" oder „Wie ich gezwungen war, den Hitler-Stalin-Pakt abzuschreiben" und schlimmer noch: „Wie ich um ein Haar gegen die Volksrepublik China in den Krieg gezogen wäre". Während mancher Berufskollege die eigene Verdrängungskiste sorgsam abdichtete, öffnete Krauß sein real existierendes Archiv und bediente sich der gesammelten Erfahrungen, Artikel und Zeitdokumente. Viele der Geschichten beginnen mit einer DDR-typischen Skurrilität, die in einer Groteske enden könnte, dann aber doch ins Journalistische abwandert, faktenreich und informativ. Matthias Krauß schreibt nachgeholte Reportagen und Betrachtungen, die er als Redakteur der „Märkischen Volksstimme“ so nicht hätte veröffentlichen können und die nun, ergänzt um 15 Jahre Nachwendewissen, noch einmal eine neue Bewertung erfahren. In weiser Voraussicht schrieb er manche seiner damaligen Beiträge doppelt, wie jenen über die Weltfestspiele in Nordkorea: einen für die Zeitung und einen fürs Archiv. Letzterer kommt im Buch zu späten Ehren. Die historische Einordnung damaliger Positionen und die Zeitbezüge zur Gegenwart, die erst aus der Distanz möglich wurden, machen diese Geschichten interessant, ganz gleich, ob man dem Autor im Einzelnen folgen möchte oder nicht. Krauß beschreibt die Dinge, wie sie sich ihm darstellten, nicht nostalgisch, nicht schwarzweiß, sondern detailgenau, wie ein Reporter eben, der dabei gewesen ist. Das ist für die Eingeweihten, die Alters-, Berufs- und sonstigen Genossen des einstigen Parteijournalisten in der Erinnerung oft erheiternd, meist einleuchtend, manchmal auch bitter. Und jene, die es nicht erlebt haben, aber interessiert und Willens sind, dem anderen wirklich einmal vorurteilsfrei zuzuhören, werden etwas mehr erfahren vom ostdeutschen Alltag im Allgemeinen und dem eines „propagandistisch gestählten“ Jungredakteurs im Besonderen. Und sie werden bemerken, dass die Lebens- und Gedankenwelt eines Hiergeborenen um einiges weiter reichte, als es die realen Grenzziehungen vermuten ließen und dass politisches und historisches Denken des Einzelnen oft stärker mit entfernten Regionen und Geschehnissen verband, als dies heute mitunter der Fall ist. Viele Erinnerungsbücher sind seit der Wende erschienen: erschütternde, aufklärende, rechtfertigende, witzige, traurige, oberflächliche, tief greifende. Die Vielfalt ist wichtig, nicht nur, aber auch als Illustration wissenschaftlicher Geschichtsschreibung. „Der Wunderstaat" zeigt die DDR, deren Abgang und die Zeit danach in den Farben des Matthias Krauß. Wer es liest, kann eigene Nuancen hinzufügen oder aber dagegen setzen. Antje Horn-Conrad „Der Wunderstaat - Richtige Geschichten aus einem falschen Leben“ von Matthias Krauß, Anderbeck Verlag 2004
Antje Horn-Conrad
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