Autorin aus Potsdam veröffentlicht "Mantelprobe": Es muss ja nicht alles schmecken
Die Potsdamer Autorin Vera Kissel veröffentlicht ihren Erzählband "Mantelprobe" mit 15 Erzählungen. PNN-Autor Oliver Dietrich hat das Werk gelesen - und vergleicht es mit einer Pralinenschachtel.
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Das geht ja ganz schön rasant los für einen Erzählband einer Autorin, die zuletzt noch als Jugendbuchautorin in Erscheinung getreten ist. Nun, eigentlich ist Vera Kissels neuer Erzählband „Mantelprobe“, der im quartus-Verlag erschienen ist, sogar ein Kontrapunkt zur didaktischen Intention in Kinderbüchern, die ja meist vorhanden ist.
Ein Rollstuhl der Fantasie
Es geht um Leidenschaft, die subjektivste Emotion des Menschen – die natürlich ein ausgeprägtes Suchtpotenzial besitzt. Sie trifft gleich in der ersten Erzählung „Es gibt jemanden, es gibt niemanden“ eine migränegeplagte Mittdreißigerin, die in einem idyllischen Ferienhaus an einem See eine Affäre mit einem Teenager beginnt, der sich ausgerechnet als Sohn eines Ex-Lovers herausstellt. Diese Amour fou geht – man ahnt es – gehörig schief und am Ende brennt irgendwo ein Auto. Aber für eine Kurzgeschichte in drei Kapiteln ist dieser Plot natürlich zu dick aufgetragen, zumal in so wenigen Sätzen kaum Figuren entstehen können, die ausreichend Tiefenschärfe entwickeln. Der Text lebt von Bildern, die er evoziert, und das sind Bilder der Leidenschaft. Diese werden dann von expliziten Beischlafszenarien konterkariert, die nicht nur verzichtbar, sondern ausgesprochen sperrig daherkommen – sie stehen buchstäblich im Weg. Wenn sich „Schenkel anspannen“, Protagonistin Sophie „sich in ihrer Lust und seiner Gier“ ergibt und „ein Fuß leicht gegen sein Glied tippt“, dann ist diese Explizität schlicht ein Rollstuhl der Fantasie. Zu viele schwitzige Details sorgen so dafür, dass die Stimmung schnell im Eimer ist. Pornos erzeugen ja auch keine Liebe.
Doch jetzt bloß nicht gleich das Buch zuklappen. Vielleicht mag die erste Erzählung als Experiment durchgehen, auch wenn sie sich als Fehlstart entpuppt. Vera Kissel, die als Dramatikerin an verschiedenen deutschen Bühnen gearbeitet und für ihre Theaterstücke mehrere Preise und Stipendien erhalten hat, bemüht offensichtlich gern allzu deutliche Bilder, die dann schnell in Plakativität enden können. Das ist in „Hund“, der zweiten Erzählung, zunächst nicht anders: Sonja heißt dort eine einsame Figur, die sich von ihrem Mann Jens getrennt hat. Nur wenige Wochen nach ihrem Hochzeitstag erwischte sie ihn, natürlich, mit einer Jüngeren im Bett. Etwas uninspiriert wird in Rückblicken eine heile Welt demontiert, die jedoch austauschbar scheint. Ganz plötzlich sitzt jedoch ein fünfjähriger Junge auf einer Parkbank, mit einer Wäscheleine festgezurrt, wie ein ausgesetzter Hund. Sonja nimmt sich seiner an – und findet dadurch einen Ausweg aus ihrer emotionalen Paralyse.
Auch wenn die 15 Erzählungen objektiv nichts miteinander zu tun haben, so verbindet sie doch der Konflikt um Besitz und Verlust, der aus einer sehr konservativ-romantischen Perspektive heraus beschrieben wird. Eine Frau überwindet in „Keine Toten, hoppla“ erst nach dem Tod ihres Mannes ihre bedingungslose Unterordnung und entdeckt sich neu – indem sie sich Schritt für Schritt aus dem engen Korsett des Tyrannen befreit und dabei eine Lebenslust entdeckt, die in lyrischen, feinsinnigen Wortspielen beschrieben wird. In „Ein wildes Mädchen“ geht es um einen verschwundenen Teenager, der nach Jahren wieder auftaucht und genauso wieder verschwindet: „Manche Menschen lassen sich leichter lieben, wenn sie tot sind“, heißt es da. Viele Geschichten sind aufrichtig beklemmend: In „Baby“, die 2010 mit dem Evangelischen Literaturpreis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurde, geht es um ein Mädchen, das gleichsam bewundert und gemieden wird, weil seine Mutter und seine Schwester den Ruf haben, auf den Strich zu gehen – plötzlich kommt es mit einer Babypuppe in die Schule, die fortan zu ihr gehört; die Erklärung dafür ist rabiat.
Doppeldeutigkeit und Lyrik-Anleihen
Gerade in den kürzesten Geschichten ist die Potsdamerin Dramatikerin Vera Kissel, 1959 im Odenwald geboren und im Ruhrgebiet aufgewachsen, ganz in ihrem Element: kleine, doppelbödige Andeutungen, eine elliptische Erzählweise – und viel Raum für Interpretationen. 2012 war Kissel für ihren ersten Jugendroman „Was die Welle nahm“, in dem es um einen Jungen geht, der seinen Vater durch den Tsunami im Jahr 2004 verliert, für den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis nominiert. In „Mantelprobe“, ihrem Prosa-Debüt, verwendet sie oft kurze Sätze, jede Zeile ein Absatz, eine Form, die wenig mit Prosa zu tun hat, sondern sich eher an Lyrik orientiert. Oder einfach mal ein Monolog, wie in „Das auch nicht!“, der auf sämtliche beschreibende Elemente verzichtet und dadurch eine ungeahnte Wirkung entfalten kann.
Schade, dass nicht jede Erzählung ausgereift genug gerät. Am Ende bleibt es ein durchwachsener Erzählband, der zahlreiche pointierte Kurzgeschichten enthält, die nicht nur handwerklich gut gemacht sind, sondern auch im Kopf hängen bleiben. Aber es finden sich eben auch Elemente, die besser dem Rotstift zum Opfer gefallen wären. Machen aber ein oder zwei Erzählungen, die statt Erstaunen für seltsames Kopfschütteln sorgen, diesen Erzählband schlecht? Nein, auf keinen Fall, und das ist auch das Beruhigende an diesem Buch. Vielleicht ist es mit Erzählbänden auch so wie mit der oft zitierten Pralinenschachtel: Es muss ja nicht alles schmecken.
Vera Kissel: Mantelprobe. Erzählungen. Erschienen im quartus-Verlag, 120 Seiten, 12,90 Euro
Oliver Dietrich
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