zum Hauptinhalt

Von Almut Andreae: Explosive Experimente

Kunst und Wissenschaft im Dialog: Ausstellung mit Zündkraft im Brandenburgischen Kunstverein

Stand:

Einen Krater, der sich nach oben hin aufblättert, hat das winzige Geschoss hinterlassen. Wenige Milligramm Dynamit reichten aus, um in einem Bruchteil von Sekunden ein riesiges Buch zu durchschlagen. Der Kontrast zwischen dem klaffenden Loch und den ringsherum unverändert blütenweißen Buchseiten könnte kaum größer sein. Welche Kräfte haben hier gewirkt? Beim vorsichtigen Umblättern offenbart sich eine ganz neue Qualität der Sprengstoffwucht: Eine bizarre Spur feinster Linien hat sie auf den Buchseiten hinterlassen.

Wie kann es sein, dass sich Zerstörung in Ästhetik wandelt, ja dass die Teilsprengung eines Buches gleichzeitig irritiert und fasziniert? In der am Samstag eröffneten Ausstellung im Brandenburgischen Kunstverein Potsdam kommt man kaum um diese Fragen herum. Was hier unter dem Titel „Once Upon A Fraction Of Time And Other Stories“ gezeigt wird, erweitert das Ausdrucksspektrum aktueller Kunst um eine ungewöhnliche Dimension. Die hier präsentierten Arbeiten der gebürtigen Irin Aoife van Linden Tol basieren auf einer intensiven Beschäftigung der Künstlerin mit Sprengstoff. Neun Jahre nach ihren ersten Berührungen mit dem hochexplosiven Material ist Aoife van Linden Tol (Jahrgang 1978) von dem Potenzial für ihre eigene Arbeit mehr und mehr fasziniert. Wenn sie davon erzählt, wie sie in ihrer Kunst den Sprengstoff einsetzt, ist da sehr viel Respekt und Erfahrung zu spüren von jemandem, der sehr genau weiß, was er tut.

Mit einer Ausbildung zur Pyrotechnikerin und Sprengmeisterin hat Aoife van Linden Tol unmittelbar im Anschluss an ihr Kunststudium in London die Basis für die geplante Verwendung von explosiven Substanzen in ihrer künstlerischen Arbeit gelegt. Anfangs belächelt, hat man(n) die konsequent auftretende Künstlerin auf den Sprengplätzen längst akzeptiert. Auf dem Gelände der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) ist van Linden Tol ein gern gesehener Gast. Die finanzielle Förderung ihrer künstlerischen Sprengarbeit durch die BAM ist ebenfalls Ausdrucks der gegenseitigen Wertschätzung, welche die Ausstellung überzeugend nach außen transportiert. Dokumentationen wissenschaftlicher Experimente der BAM mit hochexplosiven Flüssigkeiten werden der Arbeit Aoife van Linden Tols unmittelbar gegenübergestellt. Ein zu Dokumentationszwecken eingesetzter Film der BAM zeichnet mittels Highspeed-Kamera den in Tausendstel Sekunden-Geschwindigkeit in einem Autoklav (eine Art Schnellkochtopf für Sprengexperimente) ablaufenden Prozess vom Brand bis zur Detonation in Zeitlupe nach.

Auf gänzlich andere Weise wird der Prozess der Sprengstoff-Experimente van Linden Tols entschleunigt und materialisiert, wenn die Künstlerin die bei der Explosion übereinander geschichteten Papiere am Ende nebeneinander auffächert oder in isolierten Blättern zeigt. Vor zwei Jahren hat sie die Betroffenheit und Offenheit, mit der viele Menschen auf ihre Kunst reagierten, dazu angeregt, diese Emotionalität ganz bewusst in ihre Arbeit einzubeziehen. Bekannte und Freunde der Künstlerin überließen ihr Objekte, die durch starke Gefühle oder Erinnerungen aufgeladen waren, mit dem Wunsch, diese durch Sprengeinwirkung zu transformieren: Konkrete Ergebnisse der „Second Life“ überschriebenen Projektreihe sind nun in Gestalt – behutsam – gesprengter Bücher in einer Ausstellungsvitrine zu sehen.

Bei aller Unterschiedlichkeit in der Herangehensweise und Motivation: Eine verblüffende Erkenntnis für die Besucher dieser Ausstellung liegt in der Feststellung, dass die Ernsthaftigkeit und Ausdauer, mit der die Künstlerin seit vielen Jahren ihre explosive Experimente verfolgt, der Gründlichkeit wissenschaftlicher Versuchsanordnungen und Fragestellungen in nichts nachsteht.

Um die gegenseitige Befruchtung von Kunst und Wissenschaft geht es in der erstmalig im Jahr 2006 durch den Brandenburgischen Kunstverein Potsdam etablierten Ausstellungsserie „Art + Science. Modell und Imagination“, die nun in der produktiven Zusammenarbeit Aoife van Linden Tols und der BAM eine spannende Fortsetzung fand. Das von Gerrit Gohlke kuratierte Projekt, bei dessen Realisierung ihm im aktuellen Fall der Künstler Karl Heinz Jeron zur Seite stand, ist auf Fortsetzung angelegt. Wohlwollen und Unterstützung durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg sind ihm dabei gewiss.

Bis zum 22. März, Di-So 12-18 Uhr, Brandenburgischer Kunstverein Potsdam, Brandenburger Str. 5 (Luisenforum).

Almut Andreae

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })