Kultur: Fallstricke des banalen Lebens
Furioser Auftakt der Tanztage im Nikolaisaal mit dem Klassiker „May B“ von Maguy Marin
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Die Torte im Foyer ist genauso schnell verspeist wie die auf der Bühne. Doch liegt sie nicht so schwer im Magen. Der Anblick des farbenprächtigen Buffets im Anschluss an die Eröffnungsvorstellung der Tanztage am Mittwochabend im Nikolaisaal löst die Spannung, die gut 90 Minuten das Publikum in Atem hielt.
Die Kerzen auf der Geburtstagstorte geben der legendären Inszenierung „May B“ der französischen Choreografin Maguy Marin für einen Moment etwas Wärme. Doch im Nu ist sie wieder weggeblasen. Wie bei Brecht, „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, stürzen sich die abgetakelten verrohten Figuren raffgierig auf die Torte. Nichts mit: Teilen macht Spaß.
Am Anfang des Abends erklingt aber erst einmal das letzte Lied aus Schuberts „Winterreise“: „Drüben hinterm Dorfe steht ein Leiermann, und mit seinen starren Fingern dreht er was er kann ... Doch keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an.“ Die Gefühlskälte, die aus dem per Tonband eingespielten Lied spricht, liegt wie ein Leitmotiv über den Abend. So wie der Müllerbursche aus Schuberts Winterreise vergeblich in die Welt hinauszieht, um die Liebe zu finden, sind auch diese maskenhaften altersschwachen Gesellen auf der schwarz ausgeschlagenen Bühne kaum fähig, sich anzunähern. Sie wirken einsam in der Gruppe, geben tierische Laute von sich, befriedigen sich selbst, gehen aufeinander los. Selbst wenn sie auch mal einander beistehen, scheint eine Kluft zwischen ihnen zu bleiben. Einer geht voran, die anderen verstecken sich hinter ihm. Untiefen des menschlichen Zusammenlebens – im Kleinen wie im Großen – werden in der archaisch anmutenden Choreografie sichtbar.
Der seit 30 Jahren auf den Bühnen der Welt gefeierte Tanz-Klassiker lässt mit seinen eindringlich-kafkaesken Bildern mitunter die Seele erstarren. Wo ist die Liebe? Wo die Geborgenheit? Was machen Menschen mit Menschen? In grotesker Zuspitzung werden zehn holzschnittartige Karikaturen vorgeführt. Als hätten sie Fußfesseln angelegt, schlurfen sie behäbig im Gleichschritt über die Bühne. Auf Pfiff geben sie röchelnde Geräusche von sich. Schließlich erklingt Marschmusik: Doch kein zackiger Stechschritt ist zu sehen, eher debile Verrenkungen eines ausrangierten Bataillons, dessen Geschichte man zu kennen glaubt, weil sie sich ständig wiederholt.
Die Musik steigert sich zum Kanonendonner, in burlesker Derbheit hopst die Gruppe der Getriebenen nunmehr im enger werdenden Reigen. Doch ihre Köpfe sind gesenkt, die Gesichter leer. Auf Trommelwirbel folgt Jahrmarktmusik, die flügellahmen Wesen grabschen nach ihren Geschlechtern. Schließlich ziehen sie die Schuhe aus, aneinandergelehnt. Ein tiefer Atemzug, als sei eine Last von ihnen gefallen. Doch im nächsten Moment kriechen sie wie Soldaten im Schützengraben über den Boden, skurrile Bewegungen im zackigen Fluss.
Im zweiten Teil meint man eine Dorfgemeinschaft zu erkennen, die sich alsbald in verschiedene Lager teilt. Es gibt Tratsch und Klatsch. Die sackförmigen Einheitsgewänder bekommen individuelle Noten, die graue Masse zerfällt. Doch was wir sehen, ist nur ein letzter Abgesang. Ein alter Mann im Rollstuhl, ein anderer blind am Stock. Das Leben geht zu Ende, einer nach dem anderen verlässt das sinkende Schiff. Wenn diese bizarre Gruppe, in der nur ein hellsichtiges Mädchen Hoffnungsschimmer ist, mit ihren Koffern aus den Türen kommt und sich zu ihrer letzten Reise formiert, erinnert das für einen Moment an die Deportation der Juden. Doch die Karawane zieht weiter, bis der letzte Verbliebene schließlich einsam Sand durch die Finger rinnen lässt. Man denkt an das Bibelwort: „Denn du bist Staub und kehrst wieder zum Staub zurück!“ Diese verlorenen Gestalten haben ihren Staub nie ganz abgeschüttelt. In die Stille des Abschieds erklingt noch einmal Schubert: „Da steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe. Und ringt die Hände vor Schmerzensgewalt; Mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe. Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt.“
Beifall brandet schließlich auf für eine Elegie, in der Musik, Tanz und skulpturale Bilder zusammenfließen und keineswegs versanden: für eine Choreografie, die die verborgensten Winkel auszuleuchten weiß und trotz ihrer Melancholie auch burleske Töne anschlägt. Dennoch ist man am Ende froh, der Düsternis zu entkommen und sich, wenn schon nicht an der im Nu vertilgten Torte, wenigstens an den saftigen Melonenspalten laben zu können. Und das ganz ohne Gier.
Dieser erste Ausflug der „fabrik“ in den Nikolaisaal erwies sich sowohl künstlerisch als auch in der Resonanz höchst erfreulich. Immerhin wurden 480 Gäste gezählt. Über die Reden wird man geteilter Meinung sein. So, als die Kulturbeigeordnete Iris Jana Magdowski davon sprach, dass es nach fünf Jahren für die „fabrik“ auch mal gut sein könne, einen Neuanfang zu wagen, was nach dem Wegbrechen des Geldes für das Residenzen-Programm zwangsläufig der Fall sein muss. Kulturstaatssekretär Martin Gorholt betonte, dass die „fabrik“ für das Land von besonderer Bedeutung sei: als einziger Anbieter von zeitgenössischem Tanz. Man sei weiter in der Diskussion um Profilierung. „Wir wollen die ,fabrik’ als Plattform für das ganze Land aufbauen und dazu gehört auch die Kinder- und Jugendarbeit.“
„fabrik“-Festredner Sven Till kam nach dem monatelangen Bangen um Zuschüsse für das Festival nicht umhin anzumerken, dass es schön wäre, künftig etwas mehr Planungssicherheit in den Finanzen zu bekommen. Denn gerade hochkarätige Gruppen wie Maguy Marin lassen sich kaum in letzter Minute ordern.
Sein zweiter Wunsch erwies sich ganz solidarisch: eine stärkere Lobby in Stadt und Land auch für die lokale Künstlerförderung. Dabei schaute er durchaus über den Tellerrand des Tanzes hinaus. Schön, dass nach einem Stück, das von verkümmerten selbstsüchtigen Seelen erzählt, auch noch andere Töne angeschlagen wurden. Vielleicht ist das Leben ja doch nicht so grau.
Heute um 20 Uhr in der „fabrik, Schiffbauergasse, Deutschlandpremiere des Doppelabends von Fabrice Lambert (Frankreich) und Daniel Abreul (Spanien). Karten unter Tel. (0331) 24 09 23
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