Kultur: Familiengeschichten
Die Enkelgeneration und die Erinnerung an den Nationalsozialismus in Wissenschaft und Literatur
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Die Enkelin will es genau wissen. Nachdem die Auflösung der großelterlichen Wohnung Devotionalien zu Tage gebracht hat, die nicht zu der Familienlegende der Nazigegnerschaft passen, fragt sich die junge, schwangere Meteorologin in die hellen Erinnerungsmomente ihrer dementen Großmutter hinein und lässt nicht locker. Mit naturwissenschaftlich geschultem Forscherdrang reflektiert sie ihre Methoden, variiert ihre Fragetechnik und erreicht, dass die Großmutter tatsächlich irgendwann unverhüllt erzählt: Wie die Familie im Januar 1945 wie viele andere aus dem Osten flieht und nur einen Platz auf einem sicheren Kleinboot findet, weil die fünfjährige Tochter mit ihrem gereckten Arm die nazitreue Gesinnung der Familie unter Beweis stellt – und eine andere Frau mit ihrem kleinen Sohn nicht einsteigen kann, weil auf den Hitlergruß noch die Denunziation der Zurückbleibenden folgt. Das kleine Mädchen wird später die Familiengeschichten nicht ertragen können, nicht die Gewissheit, noch einmal davon gekommen zu sein. Die von der Großmutter als Sieg erzählte Episode, ist für die Mutter eine unaushaltbare Schuld. Tanja Dückers hat in ihrem Roman „Himmelskörper“die Leerstellen in den Biografien der Eltern und Großeltern in den Mittelpunkt gestellt und die Frage, wie die dritte Generation damit umgeht.
Nach Potsdam eingeladen war die Berliner Autorin am Donnerstagabend zu einer Veranstaltung des Zeitpfeil Forums, einem studentischen Verein für politische und (inter)kulturelle Bildung, der mit dieser ersten öffentlichen Diskussionsveranstaltung in der Stadt- und Landesbibliothek Literatur und Wissenschaft in Beziehung setzen wollte. Entsprechend hatte zunächst ein Historiker, Dr. Christoph Classen vom Zentrum für Zeithistorische Forschung, das Wort. Ausgehend von einer These, dass es eine Konjunktur der Erinnerung an Nazideutschland gebe, die vor allem medial verstärkt würde, stellte er die Forschungsergebnisse der Studie „Opa war kein Nazi“ von Harald Welzer u.a. vor, nach der die Großeltern kritischer mit ihrer Biografie umgingen als die Enkel. Die Jungen neigten, so die Studie von 2002, zu einer Heroisierung der Alten und würden familiäre Geschichtsschreibungen entwerfen, in denen kein Platz sei für eine kritische Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Verhalten der Großeltern im Nationalsozialismus. Je genauer die dritte Generation die Gräueltaten der Nazis kenne, so der Grundtenor, desto weniger könne sie sich vorstellen, dass ihre Angehörigen darin involviert waren.
Als weiteres missliebiges Phänomen machte der Historiker die Allgegenwart von Zeitzeugen aus, denen der „Mythos des Authentischen“ generell einen zu hohen Stellenwert in der Aufarbeitung zugestehe – zumal sie häufig dank cleverer Schnitttechnik im Fernsehen einfach nur benutzt würden, um schon vorgefasste Thesen zu belegen.
Die Literatin widerlegte durch Literatur. Allein die Grundanlage ihres Romans, das beharrliche Nachfragen der Enkelin gegenüber der Großmutter, wertet die Befragung von Zeitzeugen auf, gerade da, wo diese sich nicht selbst auseinandersetzen wollen. So problematisiert Dückers Roman auch die Grundthese von den unkritischen Enkeln.
Die Hauptfigur jedenfalls erwartet von den sehr alten Großeltern kein Schuldbekenntnis, strebt aber auch nicht nach einer „Geste der Versöhnung“ mit der großelterlichen Schuld. Der „nüchterne Blick der Enkel“, so Dückers, verlangt Antworten über die Geschehnisse in der Vergangenheit, Antworten die für die Erkenntnis der Gegenwart enorm wichtig sind.Lene Zade
Lene Zade
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