Kultur: Filmhistorische Rarität
„Titanic“ in Film und Buch im Filmmuseum
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Sie reißen vor Schreck ihre Augen und Münder auf und packen sich einander entsetzt bei den Schultern. Mit den für Stummfilme so typisch wie notwendig überzeichneten Mimiken und Gesten reagieren die Schauspieler, in dennoch ungewohnt raschen Perspektivwechseln, auf den Anblick einer im Wasser schaukelnden Eisbergattrappe. Eine spannungsaufbauende Melodramatik, die mit den sachlich dokumentarisch wirkenden Szenen fast verschmilzt, was man als Frühform der heutigen „Katastrophenfilme“ sehen kann.
Geleistet hat diese Pionierarbeit der rumänische Regisseur Mime Misu in seinem Film „Titanic - In Nacht und Eis“. Es ist die erste vollständige filmische Dramatisierung des berühmten Schiffsunglücks, die, nach kurzer Drehzeit, bereits im August 1912 in den deutschen Kinos gezeigt wurde, danach jedoch lange als verschollen galt. Am Freitagabend wurde diese filmhistorische Rarität anlässlich des 100. Jahrestages des Untergangs der Titanic und im Rahmen der Vorstellung von Michael Wedels neuem Buch „Kollision im Kino. Mime Misu und der Untergang der Titanic“ (edition text + kritik, 24,80 Euro) im Filmmuseum Potsdam präsentiert.
Auch wenn sein Name längst in Vergessenheit geraten ist, war Mime Misu seinerzeit eine bekannte und schillernde Figur der Film- und Theaterszene. Als überaus vielseitiger Künstler genoss er eine solche Sonderstellung, dass er auf den zeitgenössischen Werbeanzeigen sogar als Regisseur auftaucht, was tatsächlich nur in Ausnahmefällen geschehen sei, so Michael Wedel. Doch erst die überraschende Kontaktaufnahme mit der heute noch lebenden Tochter Misus, dank der das Filmmuseum derzeit auch verschiedene Gegenstände aus dem Nachlass des Regisseurs ausstellt, habe das Buchprojekt vollends ermöglicht. In seinem interessanten und sorgfältig recherchierten, reich illustrierten, jedoch nicht immer leicht lesbaren Buch entwirft der Autor und wissenschaftliche Leiter des Filmmuseums ein biografisches Porträt Mime Misus und beschreibt anhand einer ausführlichen Betrachtung dessen Titanic-Films die Merkmale des frühen „Sensations- und Katastrophenkinos“. Das wirklich Bemerkenswerte an Misus Film, so Wedel, sei die gekonnte Vermischung von Wahrheit und Dichtung, die durch die in authentische Nacherzählungen Überlebender und in quasi simulierte Wochenschauberichte eingebettete, dramatisch stilisierte Heldengeschichte des Kapitäns und seines Telegraphisten erreicht werde. So nehmen auch die regelmäßigen Zwischentitel schon vorweg, dass beide, beim Versuch, noch möglichst viele Menschenleben zu retten, selber ertrinken werden. Dem Zuschauer, dem der Ausgang der Katastrophe ja bekannt ist, wird damit auch ein emotionales Seedrama geboten, so sonderbar theatralisch dies heute anzuschauen ist.
Komisch und erstaunlich zugleich muten auch die Spezialeffekte an. Eine Kippbühne lässt die Kulissen ständig schwanken, stellt den Seegang nach und die Erschütterung an Bord bei der Eisbergkollision. Es ist der von Helmut Schulte an der Welte-Kinoorgel perfekt untermalte Höhepunkt der Inszenierung, der zur Erzeugung eines Gleichzeitigkeitseindrucks an drei abwechselnden Handlungsschauplätzen jedes Mal wiederholt wird. In Einzelsequenzen sieht man bald darauf das acht Meter lange Modell der Titanic auf dem Krüpelsee bei Königswusterhausen untergehen und einen heldenhaften Kapitän im nur hüfttiefen Wasser bei der Rettung eines Ertrinkenden. Daniel Flügel
Daniel Flügel
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