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Kultur: Freaks versus Tradition

Burak Özdemir lässt Barock frisch klingen

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Am Anfang stehen die Worte. Die ganze Welt flimmert in wenigen Begriffen über die Wand hinter der Bühne. Poetry. Ocean. Space. Und so weiter. Darunter auf der Bühne breitet sich ein düsterer Klangteppich aus. Noch keine Musik, eher eine Art Urschleim. Schwarze Ton-Materie. Ganz langsam formen sich puckernde Beats aus der Masse, die werden getragen von einer verschlungenen Melodie. Und schon ist man mittendrin in Burak Özdemirs „Sampling Baroque Episode IV: Exposing Händel“. Ein Konzert, das am Freitagabend ein ganz breit gefächertes Publikum ins Foyer des Nikolaisaal gelockt hatte.

Mit seinem „Ensemble Musica Sequenza“, bestehend aus Fagott, Bratsche und DJ, baut Özdemir aus zwei musikalischen Epochen ganz neue Kompositionen. Elektro trifft Barock. Sampling nennt der Fagottist Özdemir das. „Die Musik existiert bereits unbewusst in unserem Gedächtnis. Sie taucht unerwartet wieder auf, ausgelöst durch seltsame Assoziationen. Ein Bild, ein Klang, eine musikalische Phrase, die wir aufnahmen: ein Hinweis, der uns auf einen bestimmten Weg führt.“ Und so wird aus dem sehnsuchtsvoll klagenden Thema aus Händels „Fuge a Moll“ ein tanzbares Stück. Wie alt Händels (1685-1759) Musik ist, ja, dass sie überhaupt alt ist, lassen Özdemir und sein Bratschist Chang-Yun Yoo völlig vergessen. Nicht ganz unschuldig daran ist die Berliner DJ-Künstlerin Ipek.

Özdemir selbst ist in Istanbul geboren, er studierte später an der Berliner Universität der Künste und an der renommierten Juilliard School in New York. Doch manchmal klingt zwischen Barock und Electro dieser spezielle, sehr zärtliche orientalische Sound durch – dieses ganz besonders Sehnsuchtsvolle. Für einen Moment. Dann wieder bearbeitet er seine Synthesizer wie ein Besessener, um sein Stück zurückzutreiben in die dunkle Materie, aus der er es hervorgebracht hat. Aus Händels Sonate g-Moll werden schließlich wabernde Beats, die sich direkt ins Herz der Zuhörer pumpen.

Das Sampling setzen Özdemir und Chang-Yun Yoo auch visuell um: Beide tragen schreiend bunt gemusterte Hemden unter ihren schwarzen Fracks, Freaks versus Tradition, auch hier. Noch präsenter sind die Projektionen: helle und dunkle Perlen, sich ständig verändernde Muster – der Blick durch ein Kaleidoskop. Am Ende wird das Ensemble bodenständig: Die alten Aufnahmen einer Bauchtänzerin, ihre Hüftschwünge immer wieder – nun ja – gesampelt, folgen jetzt Özdemirs Rhythmus. Der greift eine klassisch orientalische Melodie auf, bricht sie, löst sie auf und kommt doch immer wieder zu ihr zurück.

Vielleicht ist aber genau dieses Zarte, Umherschweifende seiner Musik das Problem: All die Assoziationen, aus denen er seine Musik so kunstvoll baut, tauchen im Kopf des Zuhörers auf, kitzeln eigene, weitere Assoziationen hervor. Und getragen von Chang-Yun Yoos oft sehnsüchtig klagender Bratsche gleiten die Gedanken ab, wandern umher, bleiben nicht bei Özdemir und seinem Ensemble. Ganz am Schluss holt er einen mit einer besonderen Assoziationskette noch einmal zurück: Die schrägsten Phobien wandern – wie eine Parade des Abseitigen – über die Bühnenwand. Venustraphobie, die Angst vor schönen Frauen, oder Phonophobie, die Angst vor Geräuschen, sind dabei, wie selbstironische Zitate auf die eigene Show. Und die war gut. Ariane Lemme

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