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Kultur: Fressen und gefressen werden

Judith Schalansky erhält heute im Literaturladen Wist den „Kleinen Hei“

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Dieser „Bildungsroman“ lässt frösteln. Wem eine Frau wie Inge Lohmark als Lehrerin vorgesetzt wird, der hat nichts zu lachen. Für sie steht fest, im Sinne der Evolution, dass nur der Starke überleben wird. „Es lohnte einfach nicht, die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behinderte. Parasiten am gesunden Klassenkörper.“ Judith Schalanskys Roman „Der Hals der Giraffe“ erzählt drei Tage aus dem Leben dieser sich einigelnden Biologielehrerin mit den markigen Sprüchen, die Menschen wie tote Fische seziert.

Das Buch nimmt von der ersten Seite an gefangen, durch seine erschreckend nüchternen und doch zupackenden Beschreibungen einer sterbenden Region in vorpommerschen Hinterland, dem Nichtankommen der Menschen in der neuen Zeit, dem Abtauchen unter einer dicken Eisschicht, das vergrabene Gefühle und Konflikte unheilvoll brodeln lässt.

Judith Schalansky, der heute der achte „Kleine Hei“, Potsdams einziger Buchpreis, im Literaturladen von Carsten Wist verliehen wird, weiß ihre Sprache wie leise detonierende Sprengladungen einzusetzen. Fast im Staccato reihen sich Satzfragmente aneinander, die von einer seelischen und gesellschaftlichen Verstümmelung erzählen. Wenn diese Inge Lohmark ihr Wissen über die Biologie ausbreitet, über Anpassung und Zusammenleben, Fressen und Gefressenwerden, brilliert sie geradezu in ihrer Bildhaftigkeit. Doch wenn sie über ihre Mitmenschen und vor allem über ihre Schüler nachdenkt, verfällt sie in eine aberwitzige Hassliebe.

Dieser Schmusekurs des neuen Direktors aus dem Westen ist so gar nicht ihr Ding. Gefühle vor Schülern zeigen: ohne sie. Schnell wird man sonst selbst zur Beute. Das lernte sie schon, als sie das erste Mal vor einer Klasse stand. Doch jetzt, nach 30 Jahren Zucht und Ordnung in ihrem Biologieunterricht, soll es ihr dennoch an den Kragen gehen. Wo findet sie Halt?

Ihr Mann, der zu DDR-Zeit Kühe besamt hat, ist in seiner exotischen Straußenzucht untergetaucht, die Tochter hat sich bereits vor Jahren ins ferne Amiland abgesetzt. Einsamkeit, Verunsicherung und zunehmende Angst packen nun auch sie: die so unbeirrbare Inge Lohmark.

Judith Schalansky hat ihre von leichter Hand geformte Auseinandersetzung mit Landflucht, „importierter Begeisterung“ einer Handvoll zugezogener Großstädter, schließenden Schulen, Umweltsünden und Klimawandel in ein festes graues Leinen gehüllt und mit eigenen Zeichnungen angereichert: ganz im Sinne des Abstammungsexperten Ernst Haeckel und natürlich von Frau Lohmark. So ist dieses bei Suhrkamp erschienene Buch nicht nur Lesevergnügen, sondern auch ein visuelles Kleinod.

Die heute in Berlin lebende Autorin, Jahrgang 1980, studierte Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und Kommunikationsdesign an der Fachhochschule Potsdam. Nach Abschluss ihres Studiums unterrichtete sie dort bis 2009 Typografische Grundlagen. Ihre schriftstellerische Tätigkeit begann sie mit dem Kompendium „Fraktur mon Amour“. Inzwischen ist Judith Schalansky mehr im belletristischen Bereich Zuhause und gestaltet ihre Bücher, die ihr regelmäßig Designpreise einbringen, nach wie vor selbst. Sie gibt nichts aus der Hand: auch ihre Heimat nicht. Die gebürtige Greifswalderin weiß offensichtlich genau, wie sich das Leben in einer schrumpfenden Kleinstadt anfühlt. Heidi Jäger

Lesung, am heutigen Donnerstag, 1. Dezember, 20 Uhr, Literaturladen Wist, Dortustr. 17

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