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Sven Marquardt las aus seiner Autobiografie: Friedhofsspaziergänge mit dem Türsteher

In Roman Polanskis Film „Der Ghostwriter“ wird es gefährlich für einen Autor, als er dem Porträtierten zu nahe kommt. Bei Türsteher-Ikone und Fotograf Sven Marquardt, dessen Werkschau gerade im Kunstraum des Waschhauses hängt, ist das eher unwahrscheinlich: Mit der Journalistin Judka Strittmatter, Enkelin des Schriftstellers Erwin Strittmatter, hat er eine Ghostwriterin engagiert, die er ganz offensiv präsentieren durfte – er erzählte, sie schrieb mit.

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In Roman Polanskis Film „Der Ghostwriter“ wird es gefährlich für einen Autor, als er dem Porträtierten zu nahe kommt. Bei Türsteher-Ikone und Fotograf Sven Marquardt, dessen Werkschau gerade im Kunstraum des Waschhauses hängt, ist das eher unwahrscheinlich: Mit der Journalistin Judka Strittmatter, Enkelin des Schriftstellers Erwin Strittmatter, hat er eine Ghostwriterin engagiert, die er ganz offensiv präsentieren durfte – er erzählte, sie schrieb mit. Am Mittwochabend lasen beide in der Schinkelhalle aus der Biografie von Marquardt. In „Die Nacht ist Leben“ erzählt Marquardt von seinem Leben als Punk in der DDR über seine exzessive Clubkarriere bis zum gefeierten Fotografen und bekanntesten Türsteher der Republik.

Ironie des Abends: Ausgerechnet Co-Autorin Strittmacher war an diesem Tag die 1000. Besucherin der Werkschau – und bekam somit eine Ausgabe ihres eigenen Buches. Moderiert wurde der Abend von Jens Balzer, Feuilletonist der „Berliner Zeitung“: Viel brauchte Balzer nicht zu tun, Marquardt erzählte so bereitwillig, dass Balzer mehr damit beschäftigt war, dessen Redefluss zu stoppen. Marquardt taugt aber auch zum Geschichtenerzähler wesentlich besser als zum Vorleser. So ließ sich ein wenig über die Entstehungsgeschichte plaudern: Man erfuhr, dass Strittmatter das „Berghain“ noch nie betreten hat, und Marquardt beim Erzählen permanent in Bewegung sein muss – was ziemlich gut bei Spaziergängen über den Friedhof funktioniere.

„Die Grundidee war, eine Berlin-Geschichte zu erzählen“, sagt der Chronist einer aufreibenden Zeit. Als Punk, noch dazu schwul, sei er selbst für die intellektuelle Bohème im Ostberlin der Vorwendezeit zu schrill gewesen: „Es bedeutet eine Menge Arbeit, so auszusehen, dass andere vor einem ausspucken.“ Für Marquardt beginnen „Ersatzreisen“, in Hinterhöfe und auf Dächer im verfallenen Pankow und Prenzlauer Berg. Mit seinem Aussehen habe er tatsächlich offizielles „Mitte-Verbot“ gehabt. Einmal bekommt er als junger Fotograf ein Visum zur einmaligen Ausreise, nach Südfrankreich zu einem Fotokurs – und bleibt auf dem Weg in einer Westberliner Kneipe hängen. Typisch Marquardt: Nach der Wende kam die Freiheit, mit ihr die Rave-Kultur, er mittendrin im schillernden Berlin, doch die Kamera bleibt bis zum Ende der 90er im Schrank: „Nee, ich habe lieber Schuhe verkauft, konnte mir am Wochenende zwei Pillen leisten und bin feiern gegangen“, erzählt Marquardt, mittlerweile 53 Jahre alt. Vom Dancefloor wechselt er zum Türsteher, die Zeiten ändern sich, es gibt wieder erste Streifzüge mit der Kamera: Marquardt sucht immer noch das Verfallene, das alte Berlin, aber findet es jetzt weiter draußen, in Alt-Stralau, Rummelsburg, Schöneweide.

Im „Berghain“ steht Marquardt noch heute an der Tür, und der Club bekommt natürlich ein eigenes Kapitel: „Es gibt Internetforen, in denen diskutiert wird, wie man am besten an mir vorbeikommt“, freut sich Marquardt. Mittlerweile gebe es sogar eine App. Als bösen Türsteher sehe er sich nicht, sagt er mit seiner sanften Stimme, die kaum zu seinem brachialen Äußeren passt. „Selbst Leute, die ich ablehne, wollen noch ein Foto mit mir machen.“ Oliver Dietrich

Sven Marquardt: „Die Nacht ist Leben“, erschienen im Ullstein-Verlag, 14,99 Euro. Die Werkschau im Kunstraum ist noch bis zum 18. Oktober zu sehen

Oliver Dietrich

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